3. Ist der Sohn des Menschen göttlich?
Jesus hat sehr oft den Titel „Sohn des Menschen“ auf sich bezogen. Die neutestamentlichen Evangelien berichten, dass er dies bei mindestens 39 Gelegenheiten getan hat. Jesus ist der einzige, der so von sich gesprochen hat.
Am deutlichsten hat Jesus sich bei der Heilung des von Geburt an blinden Mannes als Sohn des Menschen identifiziert (Johannes 9, 1-12). Als Jesus ihn später wieder getroffen hat, hat er ihn gefragt: „Glaubst du an den Sohn des Menschen?“ Er antwortete und sprach: „Und wer ist es, Herr, dass ich an ihn glaube?“ Jesus sprach zu ihm: „Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es.“ Er aber sprach: „Ich glaube, Herr.“ Und er warf sich vor ihm nieder. (Verse 35-38)
Christen haben schon immer diese Selbstbezeichnung Jesu als „Sohn des Menschen“ mit der im Alten Testament zu findenden Vision Daniels in Verbindung gebracht, in der dieser prophetisch vier große Tiere gesehen hat, die für vier aufeinander folgende, heidnische Weltreiche stehen (Daniel 7, 2-12). Daniel hat auch vom Ende dieser Zeitalter geschrieben: „Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen [GOTT], und man brachte ihn vor IHN. Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm.“ (Daniel 7, 13-14)
Auch die Kirchenväter haben die Selbstbezeichnung Jesu als „Sohn des Menschen“ mit Daniel 7, 13-14 verknüpft; aber sie haben diesen Titel niemals groß betont, weil sie geglaubt haben, dass er damit sein Menschsein gekennzeichnet hat. Allerdings glauben heute viele Theologen genau das Gegenteil. Sie behaupten beharrlich, dass die „Sohn des Menschen – Gestalt“ in der Vision Daniels göttlichen Wesens ist. Sie folgern deshalb: Wenn diese Gestalt Jesus darstellt, dann ist Jesus göttlich.
Oscar Cullmann behauptet, dass Jesus sich auf Daniels „Sohn des Menschen – Gestalt“ gestützt hat und „dass Jesus gerade durch den Gebrauch dieser Bezeichnung von seinem göttlichen Wesen gesprochen hat.“ I. Howard Marshall sagt, dass Jesus mit der Bezugnahme auf die „Sohn des Menschen – Gestalt“ Daniels sowohl auf seinen menschlichen als auch auf seinen göttlichen Ursprung hinweist, weil „er vom Himmel kommt.“
Einige christliche Lehrer haben also gedacht, dass Jesus präexistiert hat und göttlich gewesen ist, weil der von Daniel gesehene „Sohn des Menschen“ eine himmlische Gestalt ist und/oder weil Jesus vom Himmel kommen wird, wenn er auf die Erde zurückkehrt. James Dunn widerspricht dieser Aussage: „Man kann keinesfalls schließen, dass eine Person in einer endzeitlichen Vision präexistent gewesen ist, nur weil sie im Himmel vor GOTT erscheint.“
In der Tat hat das normative Judentum immer den Glauben an die Präexistenz verschiedener Menschen zugelassen, hat sie aber niemals geglaubt, dass sie deshalb göttlich sind. Unter diesen waren Henoch aus der Zeit vor der Sintflut, der Priesterkönig Melchisedek, der Gesetzesgeber Mose und der Prophet Elia. Solche Glaubensvorstellungen waren nie dazu gedacht, den strengen jüdischen Monotheismus zu gefährden.
Einige Christen zitieren jüdische endzeitliche Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels, wie die Bilderreden (1. Henoch 37-71) und das 4. Buch Esra, um zu untermauern, dass der „Sohn des Menschen“ vor seinem menschlichen Leben präexistiert hat (1. Henoch 48, 6; 62, 7; 4. Esra 12, 32; 13, 3+26) und machen ihn göttlich.
In den Bilderreden wird der „Sohn des Menschen“ vierzehn Mal erwähnt; beide Quellen identifizieren ihn als „den Messias“. (1. Henoch 48, 10; 52, 4; 4. Esra 7, 28-29; 12, 32). Sie scheinen ihm auch eine Präexistenz zuzuweisen (1. Henoch 48, 2+6; 62, 6-7; 4. Esra 12, 32; 13, 26). Aber sie identifizieren ihn niemals als göttlich oder als GOTT. Nebenbei bemerkt, - man muss diese Bücher als Auslegungen zu Daniels „Sohn des Menschen“ verstehen.
Einige christliche Theologen interpretieren Daniels „Sohn des Menschen“ als eine Person, die „göttlich“, „Gottheit“ oder „Gott/GOTT“ ist, weil er „mit den Wolken des Himmels kam“. Zur Unterstützung zitieren sie verschiedene alttestamentliche Paralleltexte, die beschreiben, dass GOTT auf den Wolken daherkommt oder von Wolken umhüllt ist (2. Mo 13, 21; 20, 21; Psalm 97, 2; 104, 3; Jes 19, 1). Sie behaupten, dass dieses Geschehen ein Vorrecht ist, das nur GOTT zusteht; was aber eine recht willkürliche Annahme ist.
Das Judentum hat immer zurückgewiesen, dass der Messias GOTT ist, ganz gleich, ob er nun auf den Wolken kommt oder nicht. Der Talmud sagt, dass ihr Messias triumphierend „mit den Wolken des Himmels“ zu den Juden kommen wird, wenn sie „würdig“ sein werden, wenn sie aber unwürdig sind, wird er „demütig und auf einem Esel reitend“ kommen. (Talmud Sanhedrin 98a). Das Judentum lehrt sogar, dass Mose auf einer Wolke in den Himmel hinaufgestiegen ist, als er gestorben ist. Die Juden haben also das „Reiten auf Wolken“ nie auf die Gottheit begrenzt.
Jesus hat aus Daniel 7, 13 zitiert, als er in Bezug auf seine Wiederkunft vorausgesagt hat: „und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit.“ (Matth 24, 30). Darüber können wir noch mehr lesen: „Siehe, er kommt mit den Wolken“ (Off 1, 7).
Christen sollten wirklich nicht denken, dass ein Kommen auf Wolken auf Göttlichkeit hinweist. Der Apostel Paulus lehrt, dass Christen bei der zukünftigen Auferstehung „entrückt werden in Wolken dem Herrn [Jesus] entgegen in die Luft“(1. Thess 4, 17).
Daniels Schilderung von dem „Sohn des Menschen“ schließt nicht aus, dass dieser vor seiner Aufnahme in den Himmel ein irdisches Leben in einem irdischen Reich gelebt haben kann; in diesem Fall hätte er nur diesen langen Zeitraum abwarten müssen. Der zeitliche Ablauf des Lebens Jesu als „Sohn des Menschen“ wäre dann wie folgt gewesen:
- Er wird geboren und lebt sein irdisches Leben.
- Dann folgt sein Tod, die Auferweckung, die Aufnahme in den Himmel, die Erhöhung zur Rechten GOTTES.
- Nun folgt ein lang andauernder Zeitabschnitt.
- Das himmlische Gericht fällt das Urteil über das vierte Reich auf der Erde.
- Unmittelbar darauf kommt es zu einer Krönungszeremonie eines Königs im Himmel, bei der dem „Sohn des Menschen“ das Reich übergeben und er zu dessen König gekrönt wird.
- Er steigt dann hinunter auf die Erde und bringt sein Königreich mit.
- Er vernichtet das vierte Königreich auf der Erde und ersetzt es durch sein ewiges Königreich.
Vieles von dem, was wir gerade gesagt haben, hat Jesus tatsächlich in seinem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, das er auf sich bezogen hat, gelehrt (Lk 19,11-27). Er sagte: „Ein hochgeborener Mann zog in ein fernes Land, um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen“ (V. 12). Bei seiner Rückkehr sagte dieser Edelmann: „Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, dass ich über sie König würde, bringt her und erschlagt sie vor mir!“ (V. 27).
Weder dieses Gleichnis noch die Schilderung Daniels von dem „Sohn des Menschen“ erfordern es, dass Jesus göttlich oder GOTT sein muss.