4. Ist Jesus im Himmel präexistent gewesen?
Die institutionellen Kirchen haben schon immer behauptet, dass Jesus von Ewigkeiten her im Himmel präexistent gewesen ist. Und sie haben daraus gefolgert, dass seine Präexistenz darauf hinweist, dass er GOTT war und ist.
Aber in unseren Tagen wird die Vorstellung, dass Jesus präexistiert hat, ernsthaft in Frage gestellt. Ein Argument lautet wie folgt: Wenn Jesus als eine voll entwickelte Person präexistiert hat, dann lässt dies keine menschliche Entwicklung zu und stellt daher sein Menschsein in Frage.
Lukas behauptet, dass Jesus eine normale menschliche Entwicklung hatte. Er sagt über die Kindheit Jesu: „Das Kind aber wuchs und erstarkte, erfüllt mit Weisheit, und GOTTES Gnade war auf ihm“ (Lk 2,40). Beachte auch, dass Lukas das Kind Jesus von GOTT unterscheidet, was vom Grundsatz her darauf hinweist, dass Jesus nicht GOTT gewesen ist.
Lukas fügt dann hinzu: „Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gunst bei GOTT und Menschen“ (V. 52).
Wie kann Jesus an Gnade und Gunst bei GOTT zugenommen haben, wenn er GOTT gewesen ist? William Barclay stellt deshalb fest: „Eine der schwierigsten aller Vorstellungen ist die Vorstellung von der Präexistenz Jesu.”
Christen behaupten immer, dass sie ihren Glauben auf der Bibel gründen. Während die ersten drei Evangelien des Neuen Testaments nichts darüber enthalten, dass Jesus präexistiert hat, scheint es im Johannesevangelium einige wichtige Abschnitte zu geben, die so etwas besagen. Und es gibt beachtenswerte Sätze in den Briefen des Apostels Paulus und im Hebräerbrief, die solches zu tun scheinen. Wir wollen uns diese Texte jetzt etwas näher betrachten. Paulus hat in seinen neutestamentlichen Briefen nirgendwo explizit behauptet, dass Jesus präexistiert hat. Karl Josef Kuschel stellt fest: „Es gibt nicht die Spur einer eindeutigen und ausdrücklichen Aussage über die Präexistenz in der Christologie, die Paulus aufgezeichnet hat.“ Allerdings haben die meisten Theologen vermutet, dass Paulus sie indirekt ausgesprochen hat. Gerhard Kittel merkt an: „Christologische Präexistenzaussagen sind ein Bestandteil des gesamten Paulinismus.“
Wie aber hat Paulus die Präexistenz verstanden? Hat er geglaubt, dass es eine Existenz als Person gewesen ist oder war es nur eine Personifikation? Zwischen beidem besteht ein großer Unterschied. James Dunn behauptet: „Es gibt keine guten Beweise, dass Jesus sich als präexistierendes Wesen gesehen hat, oder dass Paulus gedacht hat, dass Jesus präexistiert oder göttliches Wesen besessen hat.“ Dunn sagt, dass ein Großteil der Aussagen Paulus zur Präexistenz in einer personifizierten Weisheitssprache gesprochen sind, wie zum Beispiel: „Christus, GOTTES Kraft und GOTTES Weisheit“ (1. Kor 1, 24) und dass Paulus nie damit beabsichtigt hat, dass sie als wörtliche Präexistenz zu verstehen ist. Dunn führt aus, dass es aus der Zeit, als Paulus um 50 n. Chr. den Brief an die Römer geschrieben hat, „keinen Hinweis gibt, dass das christliche Denken die Vorstellung einer Inkarnation soweit entwickelt hat oder dass die Sprache von einer Präexistenz, wenn sie auf Christus bezogen ist (1. Kor 8, 6), zu diesem Zeitpunkt so verstanden werden kann, als würde sie seine Präexistenz als Person implizieren oder dass die Rede von seinem „gesandt sein“ (Röm 8, 3) damals schon so verstanden worden ist, als würde sie sein Herabsteigen aus dem Himmel beinhalten.“ Dunn fasst zusammen: „Paulus hat nicht versucht, Menschen für einen Glauben an ein präexistierendes Wesen zu gewinnen.“ Ungeachtet der Frage, ob Jesus nun präexistiert hat oder nicht, stellt D.A. Carson folgerichtig fest: „Präexistenz beinhaltet nicht göttliches Wesen.“
In der Tat hat das Judentum zu der Zeit des zweiten Tempels verschiedene fromme Männer als präexistent angesehen und doch haben die Juden nicht geglaubt, dass dieses ihren Monotheismus in Frage stellen würde.
John Knox warnt: „Je mehr der Logik der Präexistenz erlaubt wird, sich selbst in der Geschichte [von Jesus] herauszuarbeiten, desto weniger wichtig wird die [seine] Auferstehung werden.“
Die meisten Christen haben geglaubt, dass Paulus indirekt in 2. Kor 8,9 die Präexistenz Jesu bestätigt. Er schreibt hier: „ Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet“. Allgemein glaubt man, dass hier das Wort „reich“ auf die Präexistenz Jesu als Person hinweist und die Worte „arm“ und „Armut“ das Ablegen seines erhabenen Status bei seiner Inkarnation (Menschwerdung) kennzeichnen. Karl-Josef Kuschel merkt an: „Die traditionelle Exegese hat diesen Vers immer im Sinne einer Präexistenz-Christologie und Inkarnation ausgelegt, wie es die heutigen Exegeten quer durch alle konfessionellen Lager tun.“
Aber Dunn sagt zu diesem Abschnitt: „Obwohl Jesus den Reichtum einer ununterbrochenen Gemeinschaft mit GOTT hätte genießen können, hat er freiwillig gewählt, die Armut der Ferne Adams von GOTT anzunehmen; in seinem Dienst insgesamt und ganz besonders in seinem Tod“ für unsere Erlösung. Dunn fügt hinzu: „2. Kor 8,9 ist eine anschauliche Anspielung auf die schweren persönlichen Kosten, die der Dienst Jesu zur Folge hatte … dieses freiwillige Armwerden … Dass Paulus eine Anspielung auf die Selbsterniedrigung des präexistenten Christus bei seiner Inkarnation machen wollte, ist sehr unwahrscheinlich gewesen.“
Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr hatte Jesus wahrscheinlich ein emotional reiches und erfülltes Leben als der Älteste von vier Brüdern und mehreren Schwestern (Mark 6, 3). Und als Zimmermann und Bauschreiner von Nazareth und der Umgebung muss er einen guten Ruf gehabt haben. Aber in einem sehr tiefgehenden und unsagbar einschneidenden Akt der Selbsterniedrigung hat er diesen komfortablen Lebensstil aufgegeben, die Heimat verlassen und einen öffentlichen Dienst als Wanderprediger in finanzieller Armut auf sich genommen und dabei schließlich sogar sein Leben verloren. Einmal hat er seinen Jüngern über sich gesagt: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege“ (Matth 8,20; Lk 9,58).
Viele Christen glauben auch, dass der Schreiber des Hebräerbriefes Jesus so darstellt, als hätte er präexistiert. Zum Beispiel schreibt er, dass GOTT „durch“ Jesus „die Welt gemacht hat“ (Hebr 1, 2). Und weiter erklärt er, dass GOTT Jesus „einen Leib bereitet hat, als er in die Welt kommt“ (Hebr 10, 5). Dieser Schreiber berichtet aber auch, dass Jesus sich bei der Aufnahme in dem Himmel „zur Rechten der Majestät [GOTT] in der Höhe gesetzt hat; und um so viel erhabener geworden ist als die Engel“ (Hebr 1, 3-4).
Wenn Jesus aber als GOTT präexistiert hat, dann ist er immer höher als die Engel gewesen und kann deshalb nicht später so geworden sein. Dunn kommt zum Schluss, dass „der Schreiber des Hebräerbriefes in seinem Denken keinen Raum für eine Präexistenz als ontologisches Konzept (Seinsweise) gehabt hat.“
Eine Sache scheint die reale Präexistenz Jesu im Hebräerbrief auszuschließen. Denn um Heiland und Hoherpriester sein zu können, hat er in allen Dingen – mit Ausnahme der Sünde – so sein müssen, wie wir. Der Hebräerbriefschreiber erklärt das so: „Daher musste er in allem den Brüdern gleich werden, damit er barmherzig und ein treuer Hoherpriester vor GOTT werde“ (Hebr 2, 17). Noch einmal: Das erfordert es, dass Jesus nicht im wirklichen Sinne präexistiert hat, weil der Rest der Menschen dies auch nicht hat. Es scheint daher so gewesen zu sein, dass GOTT die Welt „durch“ Jesus erschaffen hat, einfach, indem ER ihn im Sinn gehabt hat.