8. Hat Jesus irgendwelche göttliche Eigenschaften abgelegt?
Der Apostel Paulus hat einen Brief an die Christen in Philippi geschrieben und sie darin ermahnt, demütig zu sein und einander zu lieben (Phil 2, 1-4). Dann hat er Worte angefügt, von denen alle modernen Theologen glauben, dass sie ein Christushymnus (von dessen Präexistenz) sind, dessen Verfasser unbekannt bleibt. Paulus führt in diesen Hymnus ein, indem er seinen Lesern schreibt: „Denn ihr sollt so gesinnt sein, wie Jesus Christus auch war“ (V. 5). Dann beginnt er diesen Hymnus mit den Worten: „Welcher, da er sich in GOTTES Gestalt befand, es nicht wie einen Raub festhielt, GOTT gleich zu sein; sondern sich selbst entäußerte, die Gestalt eines Knechtes annahm und den Menschen ähnlich wurde“ (V. 6-7). Philipper 2, 6-11 hat einen sehr tiefgehenden Einfluss auf die Geschichte der Lehre von Christus gehabt. H.E. Todt sagt: „Die christologische Lehre ist im Protestantismus hauptsächlich mit dem Bezug auf die Vorstellungen entfaltet worden, die in Phil 2 ausgedrückt worden sind. Die synoptischen Texte wurden so ausgelegt, dass sie zu dieser Passage passen.” Hätte es aber nicht andersherum sein müssen?
Aus diesen Gründen ist Phil 2, 6-11 unter den Theologen der neueren Zeit heiß debattiert worden. N.T. Wright sagt, dass der Hauptgrund darin liegt, dass diese Stelle „bekanntermaßen eine der schwierigsten Passagen in den neutestamentlichen Briefen von Paulus ist. Wegen der gebotenen Kürze dieses Artikels können wir hier nur die Oberfläche dieser theologischen Diskussion ankratzen. Zwei gegensätzliche Auslegungsvarianten von Phil 2, 6-11 haben sich unter den Theologen durchgesetzt. Da gibt es zum einen die traditionelle „inkarnatorische“ oder „präexistenzionelle Interpretation“, die immer noch bis in die Gegenwart dominiert, nach der man glaubt, dass uns die Verse 6 und 7 Jesus zeigen, der vor seinem irdischen Leben als Person im Himmel existiert hat und GOTT dem Vater gleich gewesen ist. Die andere ist die „anthropologische“ oder „menschliche Interpretation“, die zunehmend Gunst bei den Theologen gewinnt, nach der man glaubt, dass sich die Verse 6-8 nur auf das irdische Leben Jesu beziehen und deshalb nichts mit Präexistenz und Inkarnation zu tun haben.
Diejenigen, die sich für die präexistenzionelle Auslegung dieses Hymnus in Phil 2 entschieden haben, sehen sie in drei Ebenen: Präexistenz in Vers 6; Inkarnation in den Versen 7-8 und die himmlische Erhöhung in den Versen 9-11. Sie interpretieren „in GOTTES Gestalt“ in Vers 6 dahingehend, dass Jesus von Ewigkeiten her als eine zu unterscheidende Hypostasis oder Person, als der Logos aus Joh 1, 1-18, präexistiert hat und die gleiche göttliche Natur wie GOTT der Vater besessen hat, was ihn dem Vater gleich macht.
Die Art und Weise, wie man den Ausdruck „in GOTTES Gestalt“ (gr. en morphe theou) interpretiert, bestimmt weitgehend die Auslegung des restlichen Teiles dieses Hymnus. Dieser entscheidende Ausdruck ist teilweise schwierig, weil „morphe“ (Gestalt“), außer für Verwandte, nur zweimal im griechischen NT auftaucht, - und beide Male nur hier in den Versen 6 und 7. „Morphe“ bedeutet in der griechischen Literatur in der Regel „äußerliche Erscheinung“, also etwas, das nur mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Damit scheint sich „in GOTTES Gestalt“ eher auf die menschliche Existenz Jesu zu beziehen, als auf ein vorzeitliche, ontologische Präexistenz.
Vertreter der menschlichen Interpretation von Phil 2, 6-11 haben das Alte Testament nach Hinweisen auf diesen Hymnus durchsucht, um einen Schlüssel für das Verständnis der Bedeutung zu finden, die der Verfasser beabsichtigt hat. Deshalb verbinden sie Jesu Existenz als „in GOTTES Gestalt“ mit Adam, der „im Bilde (GOTTES)“ gemacht worden ist, wie es in 1. Mose 1, 27 und 5, 3 geschrieben steht. Zur Unterstützung: Paulus beschreibt Jesus an anderen Stellen als das „Ebenbild“ GOTTES (gr. eikon; 2. Kor 4, 4; Kol 1, 15). Dementsprechend beginnt der Hymnus mit der Aussage, dass Jesus ein Bild GOTTES, wie Adam, gewesen ist; man spricht hier auch von einer Adam-Christologie.
Was meint der Hymnus mit der Aussage, dass Jesus „es nicht wie einen Raub festhielt, GOTT gleich zu sein“? Theologen, die die präexistenzielle Interpretation übernommen haben, bestehen normalerweise darauf, dass damit ausgesagt wird, dass Jesus vor der Inkarnation, als Logos, „Gleichheit mit GOTT“ besessen hat, die er im Moment der Inkarnation aber aufgegeben hat. Wenn der Logos aber die Gleichheit mit GOTT hat festhalten können, dann hat er sie nicht innegehabt und konnte daher auch nicht GOTT gleich gewesen sein.
Vertreter der menschlichen Interpretation dieses Hymnus verbinden „Gleichheit mit GOTT“ mit dem „Sein wie GOTT“ in 1. Mose 3, 5. Wir erinnern uns daran, dass Adam gesündigt hat, weil Satan Eva hereingelegt hat, als er zu ihr sagte: „GOTT weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, … werdet ihr sein wie GOTT und wissen, was gut und böse ist.“ Diese Lüge hatte zum Inhalt, dass die Menschen „Gleichheit mit GOTT“ in Bezug auf das Wissen von Gut und Böse erlangen könnten (V. 6).
Was bedeutet die Aussage des Hymnus, dass Jesus „sich selbst entäußerte“? Vertreter der präexistenzionelle Interpretation des Hymnusses haben sie meist in zweierlei Richtung verstanden. Einmal, dass Jesus bei seiner Inkarnation seine göttlichen Eigenschaften abgelegt hat oder dass er sich nur entschieden hat, während der Zeit seiner Menschwerdung verschiedene dieser Eigenschaften nicht in Anspruch zu nehmen. Diese Vorstellungen nennt man kenotische Christologie, weil der Wortstamm von „entäußern“ im griechischen Text kenosis heißt. Aber beide Vorstellungen führen zu ernsten Problemen. Der Raub einer dieser göttlichen Eigenschaften, sei es Allwissenheit, Allgegenwart oder Allmacht, wäre notwendig gewesen, weil sie dem Menschsein nicht immanent sind und doch würde solch ein Raub zwingend zu etwas Geringerem als der vollen Göttlichkeit führen.
Einige Vertreter der menschlichen Interpretation haben das „entäußerte sich selbst“ (gr. heauton ekenosen) mit dem „hat sein Leben in den Tod gegeben“ (hebr. nephesho lamoot herah) in Jesaja 53, 12 in Verbindung gebracht. Joachim Jeremias hat diesen Hintergrund für den Hymnus in überzeugender Weise vertreten. Er sagt über diese Worte in Phil 2, 7: „Der Bezug auf Jes 53, 12 zeigt, dass der Ausdruck heauton ekenosen die Aufgabe des Lebens und nicht die Kenosis der Inkarnation beinhaltet.“
Ja, Paulus hat als Einleitung dieses Hymnus mit folgenden Worten begonnen: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst“ (Phil 2, 3), und er sagt, dass dieses Verhalten die Gesinnung Jesu gewesen ist (V. 5). Deshalb hat Paulus diesen Hymnus wahrscheinlich so verstanden, als sage er, dass Jesus sich von seinem Selbst entäußert hat, indem er sich dem Plan, den GOTT für sein Leben hatte, unterworfen hat. Es ist das Kreuz Christi, und nicht die Inkarnation, das uns als der Inbegriff der Selbstverleugnung Jesu im NT vor Augen gestellt wird. Und nur in diesem Sinne, und nicht mit der Inkarnation, kann Paulus zu Recht seinen Lesern ein Beispiel an die Hand geben, dem sie folgen sollen.
Jesus hat sich also nicht selbst verleugnet, indem er bei seiner Geburt bestimmte göttliche Eigenschaften beiseitegelegt oder unterdrückt hat, sondern indem er während seines ganzes Lebens ein moralisches Verhalten gezeigt hat, das mit seinem Tod am Kreuz den Höhepunkt erreicht und als Ergebnis die Erlösung all derer zur Folge hat, die an ihn glauben.
In meinem Buch The Restitution of Jesus Christ (Die Wiederherstellung Jesu Christi) habe ich der Auslegung von Phil 2,5-11 einundzwanzig Seiten gewidmet. Darin habe ich 45 Theologen und ihre Arbeiten zitiert; dazu noch vier Kirchenväter.