10. Ist Jesus GOTT, weil er jungfräulich geboren worden ist?

Eine der wichtigsten Grundlagen der kirchlichen Lehre ist die jungfräuliche Geburt Jesu gewesen. (Das Wunder war die Empfängnis und nicht die eigentliche Geburt, so dass man besser von der „jungfräulichen Empfängnis“ sprechen sollte.)

Die jungfräuliche Geburt Jesu wird nur in zwei neutestamentlichen Evangelien erwähnt (Matth 1, 18-25 und Luk 1, 26-38 u. 2, 1-21). Zusammen berichten sie, dass Maria in ihrem Leib auf übernatürliche Weise durch die Kraft des heiligen Geistes empfangen hat und dass sie Jungfrau geblieben ist, bis Jesus geboren war. Viele Christen haben geglaubt, dass Jesus wegen der wundersamen Art und Weise seiner Empfängnis GOTT gewesen ist. Die Sicht wird von einigen christlichen Gelehrten verteidigt. So behauptet zum Beispiel der führende evangelikale Theologe Alister McGrath: „Die Art und Weise, wie Jesus empfangen wurde, bestätigt …, dass Jesus in der Tat GOTT und Mensch ist.“ Und der römisch-katholische Theologe Gerald O`Collins erklärt: „Für die Tradition liegt der größte Wert der jungfräulichen Empfängnis Jesu darin, dass sie seinen göttlichen Ursprung zum Ausdruck bringt. Die Tatsache, dass er von einer Frau geboren wurde, weist auf sein Menschsein hin. Die Tatsache, dass er von einer Jungfrau geboren wurde, weist auf seine Gottheit hin.“

Wenn Jesu jungfräuliche Geburt zum Ausdruck bringt, dass er GOTT oder göttlich gewesen ist, dann ist es verwunderlich, dass weder Matthäus noch Lukas dieses in ihren Berichten von der Geburt nicht klar zum Ausdruck bringen. Und wenn Jesus GOTT gewesen ist, dann muss er auch präexistiert haben. Aber keine geringere Autorität in dieser Thematik als der herausragende römisch-katholische Ausleger des Neuen Testaments, Raymond E. Brown, schließt aus diesen Geburtserzählungen: „Matthäus und Lukas zeigen kein Wissen von der Präexistenz“ Jesu. Dieses Schweigen zeigt stark darauf hin, dass sie nicht geglaubt haben, dass Jesus präexistiert hat oder dass er GOTT gewesen ist.

Ein Engel hat Maria die Geburt Jesu prophezeit und gesagt, dass er „GOTTES Sohn genannt werden wird“ (Luk 1, 35; vergl. mit V. 32), nicht wegen einer seinsmäßigen Präexistenz, sondern wegen einer übernatürlichen Empfängnis. Dieses Wunder und dieser Titel haben nur signalisiert, dass Jesus eine besondere Beziehung zu GOTT haben würde. Lukas lässt darauf schließen, dass Jesu Empfängnis, die durch GOTTES heiligen Geist bewerkstelligt worden ist, eine Grundlage ist, ihn als den Sohn GOTTES identifizieren zu können. Reginald H. Fuller erklärt, dass Jesus in dieser Geburtsankündigung „Sohn des Höchsten (GOTTES)“ genannt wird, „wegen der Erlösung, die er in der Geschichte vollbringen wird und nicht wegen seiner ihm innewohnenden Natur.“

Logischerweise kann die jungfräuliche Geburt, nur weil sie ein Wunder gewesen ist, nicht darauf hindeuten, dass Jesus GOTT ist. Wunder können nur auf eine übernatürliche Quelle hinweisen. GOTT hat ein Wunder getan, in dem ER eine jungfräuliche Empfängnis und Geburt herbeigeführt hat; aber das zeigt noch lange nicht an, dass das Wunder selbst GOTT ist.

Schaue dir den ersten Menschen an, Adam. In der Annahme, dass die beiden biblischen Berichte von seiner Erschaffung wahr sind (1. Mo 2-3), ist Adam durch GOTTES direkte Schöpfungshandeln ein menschliches Wesen geworden, genauso wie Jesus auch. Allerdings wird niemand behaupten, dass Adams übernatürliches Entstehen darauf hinweist, dass er GOTT gewesen ist.

Viele Christen haben weiterhin darauf bestanden, dass die jungfräuliche Geburt ein wesentliches Element des christlichen Glaubens ist. Deshalb haben sie behauptet, dass ein Mensch an die jungfräuliche Geburt Jesu glauben muss, um ein richtiger Christ sein zu können. Allerdings existiert im Neuen Testament kein derartiges Gebot. Diese Stille in den beiden erwähnten Geburtsberichten ist bezeichnend und mehr noch auch in den verschiedenen evangelistischen Predigten und den kurzen Beschreibungen von Predigten, die in der Apostelgeschichte erwähnt sind.

Tatsächlich ist Jesu jungfräuliche Geburt an keiner weiteren Stelle im Neuen Testament erwähnt worden, außer indirekt und sarkastisch von den Gegnern Jesu in Joh 8, 41. Viele Theologen glauben, dass der Apostel Paulus wahrscheinlich nichts von der jungfräulichen Geburt gewusst hat, weil er bereits verstorben war, ehe die Evangelien von Matthäus und Lukas geschrieben worden sind. Trotzdem beobachtet N.T. Wright, der an die jungfräuliche Geburt glaubt, sehr gut: „ Die jungfräuliche Empfängnis Jesu an sich ist keine zentrale, wesentliche Lehre des Neuen Testaments. Hans Küng stellt in gleicher Weise fest, dass „der Glaube an Christus in keinster Weise mit dem Bekenntnis der jungfräulichen Geburt steht oder fällt.“

In der Debatte um die jungfräuliche Geburt Jesu ist Jesaja 7, 14 aus dem Alten Testament ein Schlüsseltext gewesen. Dieser Vers stammt aus einer Prophezeiung, die der Prophet Jesaja dem König Ahas vorhergesagt hat: „Darum wird euch der HERR selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.“ Das hebräische Wort, das hier mit „Jungfrau“ übersetzt worden ist, ist „alma“. Darüber gibt es einen schon lange andauernden Streit unter Gelehrten, ob „alma“ hier nun „Jungfrau“ oder „junge, verheiratete Frau“ bedeutet. Die meisten der heutigen Gelehrten glauben das Letztere.

Matthäus hat in seiner Geburtsgeschichte Jes 7, 14 zitiert und Immanuel erklärt. Er schreibt: „»Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: GOTT mit uns“ (Matth 1, 23). Das Wort Immanuel stellt die Verbindung von zwei hebräischen Worten dar: Immanu und el. Da el die verkürzte hebräische Form von „GOTT“ (elohim) ist, haben einige Christen behauptet, dass diese Zuschreibung des Titels Immanuel auf Jesus ihn wirklich als GOTT identifiziert.

Ganz im Gegenteil, - dass Jesus „Immanuel“ genannt worden ist, bedeutet nur, dass GOTT durch Jesus, der Sein Beauftragter ist, mit Seinem Volk ist. Es bedeutet das, was jemand ausgesprochen hat, als Jesus den toten Sohn der Witwe wieder auferweckt hat: „GOTT hat Sein Volk besucht“ (Luk 7, 16). Auch der Apostel Petrus hat einmal gepredigt, dass Jesus „ist umhergezogen ist und Gutes getan und alle gesund gemacht hat, … denn GOTT war mit ihm“ (Apg 10, 38). Der jüdische Neutestamentler Geza Vermes erklärt: „Die Juden müssten gekannt haben, dass der Name Immanuel (‚GOTT mit uns‘) nicht die Inkarnation GOTTES in menschlicher Gestalt bedeutet, sondern eine Versprechen göttlicher Hilfe für das jüdische Volk ist.“ Die meisten Theologen, die sehr ausführlich beschrieben haben, dass Jesus GOTT ist, räumen ein, dass Matth 1, 23 das nicht meint. Murray Harris erklärt: „Matthäus sagt nicht ‚Einer der ‚GOTT‘ ist, ist jetzt leibhaftig bei uns, sondern ‚GOTT handelt unseretwegen in dem Menschen Jesus Christus.‘“

Jesus „Immanuel“ zu nennen, ist mit den Namen anderer alttestamentlicher Heiliger zu vergleichen. Zum Beispiel Israel, Elia, Elisa, Daniel, Michael, Hesekiel und Joel enthalten el, was „GOTT“ bedeutet; aber Eltern, die ihren Sohn diesen Namen gegeben haben, haben damit nicht die Erklärung verbunden, dass ihr Kind GOTT ist.

Zusammengefasst kann man sagen: Die jungfräuliche Geburt Jesu macht es nicht erforderlich, dass er mehr als ein Mensch gewesen ist. John A.T. Robinson hat recht, wenn er sagt, dass Jesus „vollkommen und ganz ein Mensch gewesen ist und niemals etwas anderes als ein Mensch oder mehr als ein Mensch gewesen war“ und daher also niemals GOTT gewesen sein kann.