13. Ist Jesus GOTT, weil er Herr ist?
Wenn im Altertum ein Mann „Herr” genannt worden ist, war damit üblicherweise nicht mehr zum Ausdruck gebracht worden als eine Höflichkeitsformel. Andererseits sind Könige oft als „Herr“ angesprochen worden, um damit ihre angestammte Autorität zu kennzeichnen. Unter den Juden konnten Rabbis „Herr“ genannt werden, um auf beides hinzuweisen.
Die frühe grundlegende jüdisch-christliche Bekenntnisformel lautete: „Jesus ist Herr.“
Der Apostel Petrus hat genau darüber in seiner ersten Predigt an dem Tag der Pfingsten nach dem Christusereignis gepredigt. Er hat Folgendes über Jesus gesagt: „So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass GOTT diesen Jesus … zum Herrn und Christus gemacht hat“ (Apg 2, 36). Und der Apostel Paulus hat Folgendes geschrieben: „Niemand kann Jesus den Herrn nennen außer durch den Heiligen Geist“ (1. Kor 12, 3).
Jesus hat es gebilligt, dass seine Jünger ihn „Herr“ genannt haben. Kurz vor Beginn des letzten Abendessens hat Petrus Jesus „Herr“ genannt (Joh 13, 9). Kurz darauf hat Jesus diese Bezeichnung bestätigt, als er gesagt hat: „Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin's auch“ (V. 13). Jesus scheint diese beiden Titel untereinander austauschbar verwendet zu haben. Wenn Jesus „Herr“ genannt worden ist, bedeutete das, dass er der einzige Lehrer seiner Jünger gewesen ist.
Die synoptischen Evangelien zeigen uns, dass ihre Verfasser diese und andere ähnliche Begriffe untereinander austauschbar und deshalb gleichbedeutend gesehen haben, wenn sie sie auf Jesus bezogen haben. Als Jesus zum Beispiel mit seinen Jüngern in einem Boot über den See Genezareth gefahren sind und ein Sturm drohte, es untergehen zu lassen, haben sie Jesus geweckt und laut um Hilfe gerufen. Matthäus schreibt, dass sie ihn mit „Herr“ angesprochen haben (Matth 13, 25); Markus berichtet, dass es „Lehrer“ gewesen ist (Mark 4, 38-Elbf); Lukas sagt, dass sie „Meister“ gerufen haben (Luk 8, 24).
In dem Bericht über die Verklärung Jesu schreibt Matthäus, dass Petrus Jesus mit „Herr“ angesprochen hat (Matth 17, 4); Markus berichtet, dass es „Rabbi“ gewesen ist (Mark 9, 5); Lukas wiederum schreibt, dass Petrus „Meister“ gesagt hat (Luk 9, 33).
Kein anderer neutestamentlicher Schreiber spricht mehr über dieses kurze Bekenntnis, dass Jesus „Herr“ ist, als Paulus. In seinen zehn Briefen gebraucht er das Wort „Herr“ ungefähr 230 Mal für Jesus, während er ihn nur 17 Mal „Sohn (Gottes)“ nennt. Das „Herr-sein“ Jesu Christi ist ohne Zweifel das beherrschende Thema in der paulinischen Christologie.
Allerdings verwendet Paulus, anders als die anderen neutestamentlichen Schreiber, den Titel „Herr“ (gr. kurios) ausschließlich für Jesus und niemals für den Vater. Für ihn ist GOTT „der Vater“ und Jesus ist „der Herr“. Paulus schreibt zum Beispiel: „so haben wir doch nur einen GOTT, den Vater … und einen Herrn, Jesus Christus“ (1. Kor 8, 6).
Paulus proklamiert in manchen seiner evangelistischen Predigten dass Herr-sein Jesu, wie andere frühe Christen auch. Als zum Beispiel der vor Angst zitternde Kerkermeister in Philippi die verhafteten Apostel Paulus und Silas fragt: „Liebe Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ antworten sie: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!“ (Apg 16, 31).
Und Paulus hat an die Christen in Rom geschrieben: „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn GOTT von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet“ (Röm 10, 9).
Was aber haben Paulus und die anderen frühen jüdischen Christen mit ihrem Bekenntnis, dass Jesus „Herr“ ist, gemeint? Sie haben damit nicht mehr sagen wollen, als dass man Jesus in Bezug auf seine Anweisungen zur Gerechtigkeit gehorsam sein sollte. Nur wenn wir in unserem Lebensstil den Lehren Jesu halbwegs gehorsam sind, können wir mit Ehrlichkeit sagen, dass er der Herr unseres Lebens ist.
Viele Traditionalisten (Menschen, die glauben, dass Jesus GOTT ist) behaupten etwas anderes. Sie unterstellen, dass das Neue Testament mit der Bezeichnung Jesu als „Herr“ viel weiter geht. Sie sagen, dass damit darauf hingewiesen wird, dass er GOTT ist und zwar wegen der Vorgehensweise in der Septuaginta (der aus dem 3. Jhdt v. Chr. stammenden Übersetzung des Alten Testaments), in der das hebräische Wort „JHWH“ (Jahwe), der Name GOTTES (2. Mo 3, 13-16), über 6 000 Mal mit kurios übersetzt worden ist.
1963 hat Oscar Cullmann behauptet: „Der Name ‚Gott‘ (theos) für Jesus bezeichnet keinen höheren Rang als die unüberbietbare Kyrios Bezeichnung.“ Aber die Experten stimmen heute überein, dass in den Septuaginta-Ausgaben des 1. Jhdt. n. Chr. die Worte für den Namen GOTTES nicht ausgetauscht worden sind.
1978 hat George Howard richtigerweise erklärt:
„Jüngere Entdeckungen in Ägypten und in den judäischen Wüsten zeigen, dass in der vorchristlichen griechischen Bibel das Tetragramm niemals durch das Ersatzwort kurios wiedergeben worden ist und außerdem meist nicht übersetzt worden ist. Es ist in altertümlichen hebräischen oder rechtwinkligen aramäischen Buchstaben oder in der transkribierten Form von IA wiedergeben worden. … Die Vorgehensweise den göttlichen Namen durch kurios zu ersetzen, wie wir es in den christlichen Handschriften der Septuaginta finden, ist eine christliche Neuerung, die in keiner Weise das Erscheinungsbild der Bibel widerspiegelt, die die neutestamentlichen Schreiber benutzt haben … die frühe Kirche war es gewohnt, in ihrem griechischen Alten Testament das hebräische Wort ה יהו geschrieben zu sehen und nicht das Ersatzwort kurios.“
Tatsächlich wird in jüdischen Handschriften der LXX kurios durchgehend mit JHWH ersetzt! Weiterhin liefert Paulus in seinen Briefen keinen einzigen Hinweis, dass seine Verwendung des Namens kurios für Jesus ein Ersatzwort für JHWH ist, so als ob er erklären wolle, dass Jesus Jahwe ist.
James Dunn sagt über das „Herr“ in den Paulusbriefen: „Kurios ist nicht so sehr die Art und Weise, Jesus mit GOTT zu identifizieren, sondern die Möglichkeit, Jesus von GOTT zu unterscheiden.“
Paulus hat in einem seiner Briefe einen Hymnus zitiert, den einige Traditionalisten als wichtigste Unterstützung für ihren Glauben anführen, dass Jesus GOTT ist. Dort heißt es über Jesus: „Darum hat ihn auch GOTT erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie … und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre GOTTES, des Vaters“ (Phil 2, 9-11; vergl. Jes 45, 23). Diese Traditionalisten behaupten, dass der „ihm gegebene Name“ auf „Herr“ (kurios) zu beziehen ist und dass dieser Name wegen der oben erwähnten septuagintischen Praxis Jesus als GOTT identifizieren würde.
Doch „Herr“ ist ein Titel und kein Name. Auch ist „Herr“ nicht der Name GOTTES, denn der Name GOTTES ist JHWH. Und „der ihm gegebene Name“ bezieht sich hier sehr viel wahrscheinlicher auf „Jesus“.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die neutestamentlichen Berichte von den ersten Christen, die Jesus „Herr“ genannt haben, auf nicht mehr hinweisen, als auf ihre Anerkennung seiner Macht und Autorität, die GOTT ihm gegeben hat und auf ihre freiwillige Bereitschaft, sich seiner Regierung unterzuordnen. Auch Paulus, der führende Vertreter der „Herr-sein Christologie“ im Neuen Testament, gibt keinen Hinweis, dass er die Worte „Herr“ und „GOTT“ gleichsetzt und synonym gebraucht.