20. Ist Jesus im Johannesevangelium GOTT?
Fast alle Christen glauben, dass Jesus GOTT ist. Religionswissenschaftler nennen diese Christen „Traditionalisten“. Die meisten Theologen sagen, dass von allen neutestamentlichen Büchern das Johannesevangelium Jesus am deutlichsten als GOTT identifizieren würde. Es enthält die beiden beeindruckendsten neutestamentlichen Texte, die so interpretiert worden sind, als würden sie darlegen, dass Jesus GOTT ist. Es sind Joh 1, 1 und Joh 20, 28.
Selbst liberale und historisch-kritische Neutestamentler, wie die des Jesus Seminars (Teil des Westar-Instituts, Kalifornien), behaupten, dass Jesus im Johannesevangelium als GOTT präsentiert wird. Weil die synoptischen Evangelien dieses nicht tun, halten diese Theologen dieses Evangelium für eine fiktive Schöpfung der Kirche und daher historisch nicht korrekt. Ernst Käsemann hat in Bezug auf den Inhalt dieses Evangeliums von „naivem Doketismus“ gesprochen. Sarkastisch hat er gesagt: „Johannes hat aus dem galiläischen Lehrer den über die Erde schreitenden Gott werden lassen.“ Albert Schweitzer hat bestätigt, dass die ersten Theologen, die eine Unterschiedlichkeit zwischen dem synoptischen Jesus und dem johanneischen Jesus unterstellt haben, die Skeptiker David Friedrich Strauss und Ferdinand Christian Baur gewesen sind. Später ist Rudolf Bultmann Wilhelm Bousset gefolgt, als er von dem gnostischen Erlösermythos als der grundlegenden Basis der johanneischen Christologie gesprochen hat. Es geht dabei um ein himmlisches Wesen, das zur Erde geschickt wird, um Mensch zu werden und das die Menschheit durch Erleuchtung erlöst und dann in den Himmel zurückkehrt. Später hat man aber entdeckt, dass dieser Mythos seinen Ursprung im 2. Jahrhundert in Persien hatte.
Das Johannesevangelium ist also ziemlich missverstanden worden. Hauptsächlich deswegen, weil der Kirchenvater Clemens von Alexandria es zu Recht „das geistliche Evangelium“ genannt hat und die Theologen seit dieser Zeit dieser Beschreibung beigepflichtet haben. Das liegt daran, dass der johanneische Jesus sehr oft eine bildhafte Sprache verwendet hat (wie z. B. in Joh 10, 1-6; 16, 25-30). Allerdings haben die Theologen diese Tatsache oft nicht erkannt und versucht, verschiedene Worte Jesu wörtlich zu nehmen, auch wenn er sie in einem übertragenen Sinne gemeint hat. Es ist ein schlimmer Fehler, wenn das Johannesevangelium so interpretiert wird, als lehre es, dass Jesus GOTT ist.
Dieses Evangelium zeigt uns, mehr als die synoptischen Evangelien es tun, die Mitmenschlichkeit (das Menschsein) Jesu und seine Unterordnung unter den einen und einzigen höchsten GOTT. Und es enthält den wichtigsten Vers in der Bibel, der uns zeigt, dass Jesus nicht GOTT sein kann. Jesus hat zum Vater gebetet und gesagt: „Das ist aber das ewige Leben, dass sie DICH, der DU allein wahrer GOTT bist, und den DU gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17, 3). Jesus hat hier also den Vater „allein wahrer GOTT“ genannt und sich selbst deutlich von IHM unterschieden. Schon früher hatte Jesus von dem Vater als „dem alleinigen GOTT“ gesprochen (Joh 5, 44). In beiden Fällen hat Jesus das jüdische Shema bestätigt, dass GOTT „einer“ ist (5. Mo 6, 4).
Der beliebte und häufig herangezogene Text in Joh 1, 18 scheint dem zu widersprechen. Dort heißt es: „Niemand hat GOTT je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.“ (Luther 1984) Unvoreingenommene Menschen werden denken, dass diese Lesart sagt, dass es zwei Götter gibt. In einigen griechischen Handschriften steht huios (Sohn), was mit „der eingeborene Sohn“ zu übersetzen ist, was auch mehr johanneisch wäre. Aber in den ältesten und daher besten Handschriften steht theos (Gott).
Bei weit über der Hälfte der neutestamentlichen Texte, die Traditionalisten (Trinitarier) als Beweise zitieren, dass Jesus GOTT ist, gibt es aber grammatische Probleme. Die bekannteste Stelle ist Joh 1, 1c, die gewöhnlich so übersetzt wird: „Und das Wort war Gott“ „GOTT“
(theos) steht hier aber ohne Artikel. Diese etwas ungewöhnliche grammatische Konstruktion ist problematisch. Das ist der Grund, weshalb die Zeugen Jehovas sie falsch mit „das Wort war ein Gott“ übersetzen; andere Übersetzer schreiben „göttlich“. William Barclay hat recht; in der New English Bible finden wir die perfekte Übersetzung: „Was GOTT war, das war das Wort.“ Damit wird gesagt, dass das Wort genau wie GOTT, aber nicht GOTT war. Das ist genau das, was der johanneische Jesus gemeint hat, als er später zu Thomas und Philippus gesagt hat: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14, 9). Viele Christen haben diesen Satz falsch verstanden, wenn sie glauben, dass Jesus sich hier als der Vater identifiziert hat. Ganz und gar nicht! Im nächsten Satz hat er erklärt, was er damit meint: „Der Vater ist in mir.“ (V. 10; s.a. V. 11).
Im Johannesevangelium scheinen Johannes der Täufer und Jesus zu sagen, dass Jesus präexistiert hat. Viele Traditionalisten (Trinitarier) bestehen darauf, dass dieses darauf hinweisen würde, dass er GOTT ist. Aber einige dieser Stellen kennzeichnen nur eine Rangstellung (Joh 1, 15; 1, 30; 8, 58). In der Rede, in der Jesus davon gesprochen hat, dass er das Brot des Lebens ist, das vom Himmel herabgekommen ist, hat er das geistlich und nicht wörtlich gemeint (Joh 6, 32-58, 63; vergl. Joh 8, 23). Auch mit der späteren Erwähnung seiner Herrlichkeit hat er wahrscheinlich die präexistierende Schechina und nicht sich selbst gemeint (Joh 17, 5).
Frage Traditionalisten (Trinitarier), die ihre Bibel kennen: „Wo sagt Jesus in der Bibel, dass er GOTT ist?“ und sie werden sehr wahrscheinlich antworten: „In Johannes 10, 30 hat er gesagt: ‚Ich und der Vater sind eins‘.“ Aber der vorangehende Kontext offenbart uns, dass Jesus nur gemeint hat, dass sie eins in ihrem Ziel und ihrer Absicht sind. Außerdem hat er das „eins“ erklärt, als er gesagt hat: „der Vater ist in mir und ich bin im Vater“ (V. 38).
Viele Theologen behaupten, dass das Bekenntnis des zweifelnden Thomas gegenüber dem auferstandenen Jesus „Mein Herr und mein GOTT“ (Joh 20, 28) der herausragendste biblische Text ist, der eindeutig darlegt, dass Jesus GOTT ist. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Thomas hat damit nur sagen wollen, was Jesus ihm und Philippus zehn Tage zuvor über das Sehen des Vaters in ihm erklärt hat (Joh 14, 9-11). Das heißt, dass Thomas jetzt verstanden hat, dass der Vater in Jesus wohnt, was aber nicht dasselbe ist, wie die Aussage, dass Jesus GOTT ist.
Johannes hat auch erst wenige Verse vorher berichtet, dass der auferstandene Jesus zu Maria Magdalena gesagt hat: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und zu meinem GOTT und eurem GOTT!“ (V. 17). Sie hat das sogleich getan und den Jüngern verkündet: „Ich habe den Herrn gesehen.“ (V. 18). Dieser Textzusammenhang legt nahe, dass der Autor Thomas so verstanden hat, dass er sagen wollte, dass Jesus der „Herr“ und der Vater in ihm „GOTT“ ist. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Johannes Jesus einerseits den Vater als GOTT („Ich fahre auf zu meinen GOTT“) und Thomas andererseits Jesus als GOTT („mein GOTT“) identifizieren lässt.
Zwei Verse später beendet Johannes sein Evangelium mit der Aussage: „Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor den Jüngern getan, die nicht in diesem Buch geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn GOTTES, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20, 30-31). Die Aussage, dass Jesus der Sohn GOTTES ist, spielt in einer ganz anderen Welt, wenn es gerade erst geheißen hat, dass er GOTT gewesen ist.
Zusammengefasst muss man sagen, dass das Johannesevangelium historisch sehr zuverlässig ist. Wenn man meint, es behaupte, Jesus sei GOTT, dann hat man es falsch interpretiert, weil man es nicht als ein geistlich zu verstehendes Evangelium erkannt hat. Es verkündet, genauso wie die synoptischen Evangelien auch, dass Jesus der Christus, der Sohn GOTTES ist.