27. Welche Ansprüche hat Christus erhoben?  

Viele Christen, besonders die evangelikalen, sprechen davon, dass Jesus bestimmte „Ansprüche“ erhoben habe. Gewöhnlich meinen sie damit, dass Jesus Aussagen über seine Identität gemacht hat, die im Neuen Testament berichtet sind. Diese Menschen, die dem traditionellen trinitarischen Glauben anhängen, bestehen darauf, dass der höchste Anspruch, den Jesus jemals erhoben hat, die Behauptung gewesen sei, dass er GOTT ist. Die Beweislage des Neuen Testaments offenbart jedoch, dass dieses eher ihre Behauptung und nicht diejenige von Jesus ist. Der strenge Traditionalist und Trinitarier Brian Hebblethwaite räumt ein, dass „es nicht länger möglich ist, die Gottheit Jesu durch die Bezugnahme auf die ‚Anspruchserhebungen Jesu‘ zu verteidigen.“

In der Tat ist die neutestamentliche Beweislage für eine Behauptung Jesu, dass er GOTT sei, äußerst dünn. Eigentlich gibt es in den vier Evangelien überhaupt keine Berichte, in denen Jesus ausdrücklich gesagt hat, dass er GOTT ist, - etwa in der Form von: „Ich bin GOTT“ oder so ähnlich. Der Vers, den Trinitarier hauptsächlich zitieren, ist Joh 10, 30, in dem Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins.“ Sie interpretieren „eins“ so, als bedeute es, eines Wesens zu sein, so dass der Vater und der Sohn zwar zwei Personen sind, wesensmäßig jedoch ein Gott sind. Jesus hat mit diesen Worten allerdings nichts anderes gemeint, als dass er und der Vater in ihrer Beziehung und in ihren Absichten „eins“ (einig) sind. Die Bestätigung dafür finden wir in dem Gebet Jesu, das uns in Johannes 17 berichtet ist. Fünf Mal hat er darin das Wort „eins“ verwendet, was die Übersetzung des griechischen Wortes „hen“ ist. In Bezug auf seine Jünger hat er den Vater gebeten, „dass sie (alle) eins seien wie wir/eins sind“ (Verse 11, 22, vergl. mit V. 21). Wenn Jesus in Joh 10, 30 gemeint haben soll, dass er und der Vater wesensmäßig eins (ein Wesen) sind, dann muss er das gleiche auch hier gemeint haben, nämlich dass er und seine Jünger organisch eins (ein Organismus) sind, was natürlich lächerlich ist.

Außerdem hat Jesus erklärt, dass er meint, dass „sie zu vollendeter Einheit gelangen“ (V. 23-Schl. 2000). Die Gegner Jesu, die ihm zugehört haben, haben das Wort „eins“ ebenfalls missverstanden. Sie haben ihn der Gotteslästerung angeklagt, „weil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu Gott machst“ (Joh 10, 33). Jesus hat ihre Anschuldigung von sich gewiesen, indem er darauf hingewiesen hat, dass er nur behauptet hat: „Ich bin GOTTES Sohn“ (Joh 10, 36; vergl. Joh 19, 7). Die Juden haben diesen Titel nie so ausgelegt, als bedeute er „GOTT“, sondern haben zwischen GOTT und seinem Sohn unterschieden, wie zum Beispiel Psalm 2, 2, 7, 12 belegen.

Ernst Haenchen hat diesen Irrtum richtig erklärt, wenn er behauptet: „Die Juden haben deshalb völlig falschgelegen, wenn sie ihn der Lästerung angeklagt haben, er hätte sich selbst GOTT gleich gemacht. Tatsächlich steht er an der Stelle GOTTES als der eine, der von IHM gesandt ist.“

Wie alle frommen Juden ist auch Jesus ein Monotheist gewesen. Er hat das bewiesen, als er das Shema zitiert und bestätigt hat; es hatte eine tiefe Bedeutsamkeit für seine Behauptungen über seine Identität gehabt. Als ein Schriftgelehrter ihn einmal gefragt hat: „Welches Gebot ist das erste von allen?“, hat Jesus ihm geantwortet: „Das erste ist: ‚Höre, Israel: Der Herr, unser GOTT, ist ein Herr‘(Mark 12, 28-29; vergl. 5. Mo 6, 4). Daraufhin hat der Schriftgelehrte gesagt: „Recht, Lehrer, du hast nach der Wahrheit geredet; denn ER ist EINER, und es ist kein anderer außer IHM(V. 32). Wie alle Juden hat dieser Mann das „ein“ im Shema zahlenmäßig verstanden. Jesus hat das genauso so gesehen, weil er die Aussage des Schriftgelehrten gebilligt hat.

Manche Trinitarier gestehen ein, dass der größte Teil an biblischer Stütze, den sie für ihre Behauptung anführen können, dass Jesus den Anspruch erhoben habe, GOTT zu sein, nicht mehr ist als reine Schlussfolgerungen. Ein Beispiel dafür ist, dass Jesus bestimmte Vorrechte in Anspruch genommen hat, von denen diese Traditionalisten, wie auch einige Juden zu den Lebzeiten Jesu, geglaubt haben, dass sie allein GOTT vorbehalten sind, wie zum Beispiel die Macht, Tote aufzuerwecken und Sünden zu vergeben. Doch Jesus hat ganz klar herausgestellt, dass diese Privilegien nicht von Natur aus zu ihm gehören, sondern dass sie ihm von GOTT gegeben sind (Matth 28, 18; Joh 5, 21-27). Indem Jesus sich zu dieser Vollmacht gestellt hat, hat er gleichzeitig auch darauf hingewiesen, dass er von GOTT abhängig ist. Der klassische Theismus, den die Trinitarier akzeptieren, verlangt jedoch, dass GOTT, der aus sich selbst existiert, von niemandem abhängig ist.

Welche Aussagen über seine Identität hat Jesus nun gemacht? Der Titel, den er am liebsten auf sich bezogen hat, ist „Sohn des Menschen“ gewesen, der auf eine Aussage in Daniel 7, 13 hinweist: „Einer, wie der Sohn eines Menschen“. Im Gegensatz zu der Meinung einiger moderner Theologen beschreibt dieser Titel keine göttliche Person, sondern einen buchstäblichen Menschen, dem im Himmel ein Königreich gegeben wird, das aus Menschen aus allen Sprachen und Nationen besteht (V. 14). Aus diesem Grund ist er der Mann für alle Menschen. Jesus hat diese Figur zusammen mit anderen Figuren aus dem Alten Testament auf sich bezogen, wie zum Beispiel auch den Knecht (Jesaja 42-53) und den Messias.

Jesus ist nicht herumgelaufen und hat überall hinausposaunt, dass er der Messias ist. Die Juden hatten Recht, denn diese Rolle schließt auch den Sieg über die Feinde Israels mit ein; und auch die Tatsache, dass sie durch ihn zur bedeutendsten Nation auf der Erde werden. Jesus hat erklärt, dass er zuerst leiden muss (Luk 24, 6-7; 44-46). Deshalb hat er Menschen und Dämonen ein messianisches Geheimnis auferlegt, wenn er ihnen befohlen hat, nicht weiterzusagen, dass er der Messias ist; manchmal hat er gesagt, dass sie das nach seiner Auferstehung tun können (Matth 16, 20; 17, 9).

Manchmal haben seine Jünger in aller Stille zu ihm gesagt, dass er der Messias ist und wenige Male haben sie den Titel „Sohn GOTTES“ mit eingeschlossen (Matth 16, 16; Joh 1, 49; 17, 9). Jesus hat beide Bezeichnungen akzeptiert. Die meisten Christen glauben, dass die letztere darauf hinweisen würde, dass Jesus GOTT ist; es gibt aber nichts im Neuen Testament, was diese Auffassung bestätigen würde. Stattdessen glauben die Juden, und das Alte Testament bestätigt es, dass „Sohn GOTTES“ sich auf einen sehr frommen Menschen bezieht, der von GOTT in überaus großem Maße bevorzugt wird. Dieses scheint bei der Taufe und bei der Verklärung Jesu von der Stimme aus dem Himmel bestätigt worden zu sein, die gesagt hat: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ICH Wohlgefallen gefunden habe“ (Matth 3, 17; 17, 5).

Jesus hat auch akzeptiert, dass seine Jünger ihn „Herr“ genannt haben. Sie haben damit nur und nicht mehr gemeint, dass er ihr Meister und Lehrer ist, weil sie sich unter seine Autorität gestellt haben (Joh 11, 28; 13, 13). Aber einige christliche Theologen haben behauptet, dass das „Herrsein“ Jesu darauf hindeuten würde, dass er GOTT ist, weil die Juden in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., den Namen GOTTES, JHWH/Jahwe, durch „Herr“ (kurios) ersetzt haben. Man weiß heute aber sicher, dass solche noch vorhandenen Handschriften der LXX nicht von Juden sondern von Christen angefertigt worden sind. Unabhängig davon beweist der Gebrauch solcher Umschreibungen des Namens GOTTES überhaupt nichts.

Einige Christen bestehen darauf, dass die „Ich bin“ – Aussagen Jesu im Johannesevangelium, besonders diejenigen ohne Prädikat, auf die „ICH bin“-Aussage JAHWES hinweisen würden, die dieser bei der Begegnung mit Mose am brennenden Dornbusch gemacht hat, wie es in 2. Mo 3, 14 berichtet wird, und dass sie deshalb Jesu Anspruch wiedergeben würden, Jahwe zu sein. Das stimmt nicht im Geringsten! Wenn Jesus gesagt hat: „Ich bin“, dann hat er erklärt, was er meint: „Durchaus das, was ich auch zu euch rede“, nämlich dass er der Sohn des Menschen ist (Joh 8, 24-25; 28).

Kurz gesagt: Jesus hat niemals den Anspruch erhoben, GOTT zu sein; er hat sich vielmehr immer von GOTT unterschieden.