33. Welche Christologie hat Paulus gelehrt?
Der Apostel Paulus vertritt in seinen neutestamentlichen Briefen wohl verschiedene, aber sich vollkommen ergänzende, Christologien. Doch in keiner von ihnen bezeichnet er Jesus als GOTT; einige von ihnen weisen sogar eindeutig darauf hin, dass Jesus nicht GOTT sein kann.
Erstens: Paulus schreibt in 2. Kor 4,4: "Christus, der GOTTES Bild ist." In Kol 1,15 fügt er hinzu: "Er ist das Bild des unsichtbaren GOTTES." Einige Christen glauben, wenn Jesus "das Bild GOTTES" ist, dann deute das darauf hin, dass er GOTT ist. Andererseits sagt uns die Bibel: "GOTT schuf den Menschen nach Seinem Bild" (1. Mo 1,27), was Adam und Eva aber nicht zu Göttern gemacht hat. Geza Vermes stellt sehr richtig fest: "Paulus beschreibt Christus als das ‚Ebenbild‘ oder das ‚Bild GOTTES‘ … man kann damit aber nicht irgendwie auf eine Nähe zur Gottheit schließen." Logischerweise kann Jesus auch nicht beides sein, Bild GOTTES und GOTT selbst, DER für die Sterblichen unsichtbar ist.
Zweitens: Paulus ist der einzige Verfasser im Neuen Testament, der Jesus mit Adam verglichen hat (Röm 5,14-19; 1.Kor 15,45-47; vergl. Phil 2,6). Theologen sprechen hier von einer "Adam-Christologie”. Paulus beschreibt Jesus als den vollkommenen, urbildlichen Menschen und Adam als den gefallenen Menschen, der Unglück über die Erde und alle Menschen gebracht hat. Was Adam durch sein Versagen verloren hat, hat Jesus für uns durch sein gehorsames, gerechtes Leben, durch sein Leiden und seinen sühnenden Tod mehr als gewonnen. Viele Kirchenväter haben behauptet, dass Jesus GOTT sein musste, um sündlos leben und das vollkommene Opfer für unsere Sünden sein zu können. Das ist aber eine willkürliche Behauptung, die keine biblische Unterstützung hat und im Widerspruch zu der Adam-Christologie steht. Die holländische Theologin Ellen Flesseman van Leer glaubt, dass das Neue Testament Jesus nicht als GOTT identifiziert. Sie erklärt, dass Jesu "vollkommener Gehorsam nichts Übermenschliches war … Jesus handelte in Harmonie mit dem Menschsein … und wir handeln im Widerstreit mit ihm."
Weiter ist zu beachten, dass Jesus so versucht werden musste, wie Adam versucht worden ist (Matth 4,1-11; Hebr 2,18; 4,15). Jesus kann deshalb nicht GOTT sein, "denn GOTT kann nicht versucht werden vom Bösen" (Jak 1,13).
Viele Bibelleser, sogar Theologen, haben geglaubt und glauben noch heute, dass Paulus von der Präexistenz Jesu geschrieben habe - hauptsächlich wegen seiner angeblichen Mitwirkung bei der Schöpfung (1. Kor 8,6; Kol 1,16); und sie haben daraus geschlossen, dass die Präexistenz auf die Gottheit hindeutet. Der Trinitarier D. A. Carson stellt aber rigoros fest: "Präexistenz beinhaltet keine Gottheit." Das stimmt. Das Judentum aus der Zeit des zweiten Tempels hat geglaubt, dass verschiedene gottesfürchtige Menschen präexistiert haben und doch glauben die Juden nicht, dass dieses ihren Monotheismus in Frage stellt. Karl-Josef Kuschel behauptet, dass "es nicht die Spur einer eindeutigen und ausdrücklichen Aussage über die Präexistenz in der Christologie gibt, die Paulus aufgezeichnet hat." Und wenn Paulus schreibt, dass GOTT seinen Sohn gesandt hat (Gal 4,4), dann spiegelt das nur die prophetische Tradition der göttlichen Beauftragung wieder. James Dunn behauptet: "Es gibt keine brauchbaren Beweise, dass Jesus sich als präexistierendes Wesen gesehen hat." Dunn kommt zum Schluss, dass Paulus` Rede von der Präexistenz die personifizierte Weisheit meint.
Außerdem kann Jesus nicht präexistiert haben, da er, um der vollkommene Mensch sein zu können, von gleicher Art wie Adam sein musste. Der Verfasser des Hebräerbriefs stellt fest, dass Jesus "in allem den Brüdern gleich werden musste … um die Sünden des Volkes zu sühnen" (Hebr 2, 17). Nach diesen Worten kann Jesus nicht präexistiert haben, weil er so wie wir war, die wir nicht präexistent gewesen sind. Die Adam-Christologie wird also für null und nichtig erklärt, wenn Jesus sich wesensmäßig von Adam unterscheidet. Das heißt, wenn Jesus ein Gottmensch gewesen ist, dann kann man ihn nicht vernünftig mit Adam vergleichen; sie müssen sich als Spezies Mensch genau entsprochen haben. Ist das der Grund, warum viele Traditionalisten es unterlassen, die Adam-Christologie zu übernehmen?
Drittens: Paulus hat eine exklusive "GOTT in Christus-Christologie" bejaht. Er hat gezielt von "GOTT in Christus” geschrieben (Eph 4,32; 1. Thess 2,14). Und er hat erklärt, "dass GOTT in Christus war und die Welt mit SICH selbst versöhnte" (2. Kor 5,19).
Die exklusive GOTT in Christus-Christologie ist theozentrisch und das Gegenstück zu der "GOTT ist Christus-Christologie", die christozentrisch ist. Hans Küng sagt, dass "die Christusbezogenheit von Paulus in einer Gottbezogenheit gegründet ist und in ihr ihren Höhepunkt findet: ‚von GOTT durch Jesus Christus‘".
Es sollte doch klar sein: Wenn GOTT in Christus ist, dann macht dieser Umstand Christus nicht mehr zu GOTT, als die Tatsache, dass GOTT und Christus, die in den Gläubigen wohnen, diese zu Göttern oder Christussen machen. Der Lieblingsausdruck von Paulus für das Bild der geistlichen Stellung der Gläubigen spricht davon, dass sie "in Christus" sind.
Für Paulus ist Jesus also das vollkommene Ebenbild GOTTES gewesen, vor allem deshalb, weil GOTT in Seiner ganzen Fülle in Christus wohnt (Kol 1,19; 2,9), was aber Christus nicht zu GOTT macht.
Viertens: Paulus vertritt eine "Herrschafts-Christologie". Als Verfasser neutestamentlicher Schriften ist er der einzige, der wiederholt und ausschließlich den Vater "GOTT" und Jesus "Herr" nennt. In der Tat ist die Aussage "Jesus ist Herr" das vorherrschende Glaubensbekenntnis der frühen Kirche gewesen.
Was haben diese Christen gemeint, wenn sie Jesus "Herr" genannt haben? Sie haben gemeint, dass seine Anweisungen rechtschaffen befolgt werden sollten (Matth 5,17-20; 7,21-13). Der auferstandene Jesus hat gesagt: "Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden" (Matth 28,18; vergl. Joh 16,15; 17,10).
Viele Trinitarier haben behauptet, dass die neutestamentliche Bezeichnung "Herr" für Jesus darauf hinweisen würde, dass er GOTT ist, weil in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., Jahwe/JHWH, der hebräische Name GOTTES, mit kurios, "Herr" bedeutend, übersetzt worden ist. Paulus liefert uns aber keinen Hinweis, dass dieses der Grund für ihn ist, weshalb er kurios für Jesus verwendet hat. James Dunn sagt über dieses Wort in den Paulusbriefen: "Kurios ist nicht der Weg, Jesus als GOTT zu identifizieren, sondern im Gegenteil die Möglichkeit, Jesus von GOTT zu unterscheiden."
Einige Theologen behaupten, dass Paulus mit dem gelegentlichen Bezug alttestamentlicher Texte über Jahwe (JHWH) auf Jesus, angedeutet hat, dass er geglaubt hat, Jesus sei Jahwe. Die meisten dieser Stellen weisen nur darauf hin, dass Jesus als Jahwes Stellvertreter par excellence, IHN repräsentiert.
Fünftens: Paulus bestätigt eine "Unterordnungs-Christologie". Er sagt: "Christus ist GOTTES" und "GOTT ist das Haupt Christi" (1. Kor 3,23; 11,3). Paulus hat auch geschrieben, dass unser GOTT und Vater "der selige und alleinige Machthaber" ist (1. Tim 6,15). Und bezüglich der Zukunft hat er gesagt, dass Jesus "das Reich dem GOTT und Vater übergibt … dann wird auch der Sohn selbst DEM unterworfen sein, der ihm alles unterworfen hat, damit GOTT alles in allem sei" (1. Kor 15,24 u. 28).