22. Sagt Johannes 1,18, dass Jesus GOTT ist?

Unsere Bibelübersetzungen basieren auf hebräischen oder griechischen Texten, die von Textkritikern aus alten erhalten gebliebenen Handschriften (MSS), die professionelle Schreiber seinerzeit per Hand abgeschrieben haben, zusammengestellt worden sind. Viele Bibelübersetzungen weisen gelegentlich in ihren Fußnoten auf alternative Lesarten hin. Daraus ist zu ersehen, dass ein Wort oder eine Formulierung im hebräischen oder griechischen Text auch anders übersetzt werden kann, als es die Übersetzer in ihrer Version getan haben. Manchmal betreffen diese alternativen Lesarten textliche Varianten, weil die MSS nicht übereinstimmen. Dies ist in Johannes 1,18 der Fall.

Das Johannesevangelium beginnt mit einem Prolog, der aus 18 Versen besteht. Der letzte dieser Verse, Joh 1,18, heißt in der New American Standard Bible (NASB): „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Gott, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht.“ In der New Revised Standard Version (NRSV) ist der Vers ähnlich übersetzt; man findet hier aber eine Fußnote zum zweiten Teilsatz, in der es heißt: „In anderen alten Quellen heißt es: ‚er ist ein einziger Sohn, Gott‘ oder ‚er ist der einzige Sohn‘“. Die erste alternative Lesart in dieser Fußnote weist darauf hin, dass in einigen alten MSS (und vielleicht auch in einigen patristischen Schriften, die diesen Texte zitiert haben) in diesem Teilsatz sowohl huios (Sohn) als auch theos (Gott) steht. Die zweite alternative Lesart zeigt an, dass in einigen MSS nur huios steht. Diese zweite Alternative spiegelt sich in der King James Version (KJV) wider, wo es heißt: „Niemand hat GOTT je gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der hat IHN kundgemacht.“ Aus diesem Grund nennen die NASB und die meisten modernen Übersetzungen Jesus in Joh 1,18 also „GOTT“, während die KJV dies nicht macht. [Deutsche Übersetzungen mit der „Gott-Variante“: Einheitsübersetzung, Luther 1984, Neue Genfer Übersetzung, Gute Nachricht Bibel, Neues Leben Bibel, Neue evangelistische Übersetzung, Zürcher Bibel; Die „Sohn-Variante“ finden wir in: Elberfelder Bibel, Schlachter, Luther 1912; Menge; d. Ü.]

Da diese textlichen Abweichungen zum Teil sehr komplex sind, besonders für diejenigen, die das neutestamentliche Griechisch nicht kennen, können wir hier nur die wichtigsten Punkte dieses Problems beleuchten. Die NRSV übersetzt in Joh 1,18 das monogenes des griechischen Textes mit „der einzige“, während die beiden anderen genannten Übersetzungen es mit „der eingeborene“ übersetzen, was die traditionelle Form ist, die auf den Kirchenvater Hieronymus zurückgeht, der sie in seiner lateinischen Vulgata so eingeführt hat (unigenitus). Viele Gelehrte werfen ihm zu Recht vor, dass er damit nicht objektiv gewesen ist und sie behaupten, dass er es getan hat, um die orthodoxe Lehre von der ewigen Zeugung zu stützen und so dem Arianismus zu widersprechen.

C.S. Lewis übernimmt diese traditionelle Übersetzung und damit die Vorstellung von der ewigen Zeugung in seinem bekannten Buch Christentum schlechthin. Wie die Kirchenväter argumentiert er metaphysisch, wenn er sagt: „Was Gott zeugt, ist Gott; wie Mensch ist, was der Mensch zeugt.“ Der Trugschluss bei dieser Begründung liegt darin, dass GOTT kein materielles Wesen ist.

Monogenes bedeutet nicht „einziggeboren“, sondern wörtlich „einzigartig“. Es hat ein griechisches Wort für „einziggeboren“ gegeben, das monogenetos lautet. Wenn monogenes im NT zusammen mit huios vorkommt, - z.B. in Joh 3,16, 18; 1. Joh 4, 9 -, dann bedeutet es „einzigartiger/ einmaliger Sohn“.

Folgende Gründe sprechen dafür, dass monogenes theos der authentische Text in Joh 1,18 ist:

1. Theos ist der überlegenere Beleg in den drei Zeugniskategorien: In den griechischen Handschriften, den patristischen Schriften und in den ältesten Bibelübersetzungen.

2. Theos ist die schwierigere Lesart. Ein Prinzip der Textkritik besagt, dass die schwierigere, komplexere oder schroffere Variante wahrscheinlich die ursprüngliche ist, weil die Kopisten

mit größerer Wahrscheinlichkeit theos durch huios ersetzt haben, um mehr Einfachheit und Geschmeidigkeit zu erreichen.

3. Theos passt besser zu dem Prolog, das dieses mit Joh 1, 1c korrespondiert: „Und das Wort war Gott“. Wobei die herkömmliche Übersetzung dieses Satzteils fragwürdig ist.

Folgende Gründe sprechen dagegen, dass monogenes theos der echte Text in Johannes 1,18 ist:

1. Das Handschriftenzeugnis für monogenes theos ist hauptsächlich nur in einer von den fünf Handschriftenfamilien zu finden – in der alexandrinischen – wohingegen ho monogenes huios in allen Handschriftenfamilien weit verbreitet ist.

2. In der Zeit vor Nicäa ist das ägyptische Alexandria das Zentrum der Glaubensauffassung im Römischen Reich gewesen, dass Jesus ganz Gott gewesen ist. Somit können unprofessionell arbeitende Kopisten, die in Alexandria gelebt haben, wegen ihrer Christologie absichtlich huios durch theos ersetzt haben.

3. Dass der sichtbare Jesus GOTT ist, passt nicht zu der biblischen Aussage, dass kein Mensch GOTT je gesehen hat.

4. Monogenes theos kommt sonst nirgendwo im NT vor.

5. Monogenes theos „im Schoße des Vaters“ ist seltsam und sonst nirgendwo im NT zu finden.

6. Monogenes theos ist als theologisches Konzept zu entwickelt, als dass es schon so früh [bei Johannes] auftauchen könnte.

7. Monogenes theos passt nicht zu der Absicht, mit der dieses Evangelium geschrieben worden ist (Joh 20, 31).

Die Gründe, dass ho monogenes huios die richtigen Worte in Johannes 1,18 sind, sind folgende:

1. Monogenes huios passt zu dem johanneischen Sprachgebrauch (Joh 3, 16+18; 1. Joh 4, 9).

2. Theos ist wahrscheinlich ein Schreibfehler wegen der Ähnlichkeiten der Kurzformen von diesem Wort und huios.

3. Ein Abschreiber hat wegen der unmittelbaren Nähe des vorausgegangenen theou fälschlicherweise theos an die Stelle von huios setzen können.

4. „Im Schoße des Vaters zu sein“ ist eine semitische Redewendung, die die Kind-Vater Beziehung reflektiert und das huios nahelegt. „Der Sohn in dem Vater“ knüpft an das wiederholt vorkommende Vater-Sohn Motiv und ihr beiderseitiges Innewohnen an (Joh 10, 38; 14, 10-11; 14, 20).

5. Ein weiteres Thema von Johannes ist, dass der Sohn den Vater verkündet, erklärt oder bekannt macht, indem er in Seinem Namen spricht und handelt (Joh 3, 11-13; 5, 19; 14, 9-11; 15, 15).

Die drei externen Zeugen und viele moderne Bibelwissenschaftler favorisieren eindeutig monogenes theos („[der] einzige Gott“) als den ursprünglichen Text in Joh 1,18, in dem Jesus „GOTT“ genannt wird. Auf der anderen Seite unterstützen moderne Bibelübersetzungen und der diesem Evangelium innewohnende Beweis die Worte ho monogenes huios (der einzigartige Sohn“), in denen Jesus nicht „GOTT“ genannt wird.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Argumente für jede dieser Varianten gleich verteilt sind. Aber der folgende Punkt ist maßgebend: Wenn Joh 1, 1c, 5, 18; 10, 30-38 und 20, 28 so zu interpretieren sind, dass Jesus hier nicht theos („GOTT“) genannt wird, dann kann Joh 1,18 mit keinem anderen entsprechenden Text in diesem Evangelium verbunden werden. Aber in dieser Verbindung liegt der Sinn des Prologs. Da ho monogenes huios eindeutig mit Joh 3, 16+18 verbunden ist, ist der ursprüngliche Text von Johannes 1,18 sehr wahrscheinlich nicht monogenes theos sondern monogenes huios, so dass dieser Vers Jesus also nicht „GOTT“ nennt.