35. Ist Jesus in 1.Timotheus 2,5 ein Gottmensch?

Einige Kirchenväter haben Jesus für einen Gottmenschen gehalten und die überwiegende Mehrzahl der Christen hat diesen Glauben seither so übernommen. Der Schweizer Theologe Emil Brunner hat dieses wiederholt in seiner klassischen Verteidigungsschrift der traditionellen Christologie "Der Mittler. Zur Besinnung über den Christusglauben" so getan. Die Christen, die von Jesus als dem "Gottmenschen" sprechen, glauben, dass GOTT im wortwörtlichen Sinne auf die Erde herabgekommen und der Mensch Jesus Christus geworden ist. Sie nennen das Ganze auch "Inkarnation" und häufig zitieren sie 1. Timotheus 2,5, was oft die einzige biblische Unterstützung für ihre Meinung ist. Paulus hat in diesem Vers geschrieben:

"Denn einer ist GOTT, und einer ist Mittler zwischen GOTT und Menschen, der Mensch Christus Jesus."

Viele Bibelwissenschaftler glauben, dass Paulus in 1. Timotheus 2,5 eine Liturgie zitiert habe, die in den Gemeinden der damaligen Zeit weithin verwendet worden ist. Ähnlich hat er es in 1. Korinther 8,6 gemacht, wo er schreibt: "So ist doch für uns ein GOTT, der Vater." Wenn 1. Timotheus 2,5 eine Liturgie gewesen ist, dann erklärt dieses, weshalb Paulus es nicht für notwendig gehalten hat, genauer zu erklären, was er meint, weil es Timotheus bereits schon bekannt gewesen ist. Von daher belegt diese liturgische Aussage in 1. Timotheus 2,5 den wichtigsten Grundsatz aller Wahrheit über GOTT - abgesehen von der Tatsache, dass es IHN gibt - und das ist die biblische Aussage, dass ER zahlenmäßig "ein Einziger" ist. Deshalb weist dieser Vers auch auf das Shema, das kurze Glaubensbekenntnis der Juden, hin. Das Shema lautet: "Höre, Israel: Der HERR ist unser GOTT, der HERR allein!" (5. Mo 6,4).

Dieser "eine GOTT" in 1. Timotheus 2,5 verweist auch in diesem Brief auf "GOTT, den Vater” zurück, welcher der "unsichtbare” und "alleinige GOTT” ist (1. Tim 1,2 u. 17). Demnach hat Paulus zu Timotheus, seinen Dienst begleitend, gesagt, dass der Vater der alleinige GOTT ist und das bedeutet, dass GOTT zahlenmäßig ein Einziger, eine Person, ist.

Trinitarier behaupten, dass das "allein" im Shema GOTT nicht zahlenmäßig, sondern als eine Einheit beschreibt und aus diesem Grund ihre Lehre von Gott als einer Einheit von drei Personen - Vater, Sohn und Heiliger Geist - zulassen würde. Paulus hat jedoch durch seine Gegenüberstellung von dem "einen GOTT" und dem "einen Mittler" zwischen zwei Personen unterschieden. Mit anderen Worten: Wenn "der eine Mittler" mit einer Person gleichzusetzen ist, nämlich mit Jesus Christus, dann muss, um Übereinstimmung zu erreichen, der entsprechende Ausdruck "ein GOTT" auch mit einer zahlenmäßig einen Person gleichzusetzen sein, nämlich mit GOTT, dem Vater. Also: Dieser Vers identifiziert Jesus nicht als einen "Gottmenschen", sondern er unterscheidet ihn vielmehr von dem einen GOTT.

Was ist ein Mittler? In dem griechischsprachigen Neuen Testament lautet das Wort, das hier mit "Mittler" übersetzt worden ist, mesites. Es bedeutet: "Einer, der in der Mitte steht", d.h. ein Vermittler, ein "Mittelsmann". Der Textkritiker B.F. Westcott definiert mesites so: "Einer, der zwischen den Kontrahenten steht und die beiden wieder in Gemeinschaft bringen soll."

Ein Mittler ist also eine dritte Partei, die versucht, die beiden miteinander im Streit liegenden Parteien zu versöhnen. In unserem Falle sind die beiden Parteien auf der einen Seite GOTT und auf der anderen Seite die sündige Menschheit. Jesus hat nicht zu der sündigen Menschheit gehört, weil er "ohne Sünde" und "abgesondert von den Sündern" gewesen ist (Hebr 4,15; 7,26; vergl. 2. Kor 5,21). Dieser Mittler, Jesus Christus, versucht die beiden Parteien zusammenzubringen. 1. Timotheus 2,5 bietet wohl kaum eine Unterstützung für die Auffassung, dass Jesus GOTT ist; vielmehr sagt dieser Vers gerade das Gegenteil aus, indem er notwendig macht, dass der Mittler als Mittelsmann weder GOTT noch ein Mitglied der sündigen Menschheit ist, die von GOTT getrennt ist. Darin liegt der ganze Sinn eines Mittlers; diese Person muss alleine dastehen, weil sie zu keiner der beiden streitenden Parteien gehört.

Jesus wird auch noch an drei anderen Stellen als "Mittler" beschrieben, die wir alle im Hebräerbrief finden (Hebr. 8,6; 9,15; 12,24). Diese Verse und ihr jeweiliger Kontext unterstützen die Sicht, dass Jesus in einzigartiger Weise in der Lage gewesen ist, zwischen GOTT und der Menschheit zu vermitteln. Als der Sohn GOTTES, der vollkommen gerecht gewesen ist, ist Jesus mit beiden Parteien eng verbunden gewesen. Die Bibel lehrt, dass die sündige Menschheit von GOTT getrennt ist und deshalb in Feindschaft zu IHM steht. GOTT ist der Einzige, mit dem die Sünder versöhnt werden müssen. Johannes hat geschrieben: "Wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn GOTTES bleibt auf ihm." (Joh 3,36). Auch Paulus hat den Korinthern geschrieben: "Lasst euch versöhnen mit GOTT!" – damit ist GOTT, der Vater, gemeint (2. Kor 5,21; vergl. Röm 5,10). Interessanterweise wird den Menschen im Neuen Testament nirgendwo nahegelegt, dass sie sich mit Jesus versöhnen lassen sollen. GOTT ist der Einzige, dem die Sünder verantwortlich sind, weil sie gegen Seine Gebote verstoßen haben.

Deshalb ist GOTT der letztgültige Urgrund der Versöhnung. ER hat sie geplant und durch Jesus, Seinen Christus, zuwege gebracht, den ER als den Erlöser gesandt hat. Paulus hat auch die gläubigen Korinther darüber unterrichtet, dass "GOTT … uns mit SICH selbst versöhnt hat durch Christus" (2. Kor 5,18).

Einige Gelehrte aus früherer Zeit haben der Bezeichnung "Gottmensch" für Christus widersprochen. Einer von ihnen ist Friedrich Schleiermacher gewesen, ein Nichttrinitarier und einer der berühmtesten christlichen Theologen des frühen 19. Jahrhunderts. Er und viele andere haben darauf hingewiesen, dass der Begriff "Gottmensch" weder in dem Text von 1. Timotheus 2,5 und noch sonst irgendwo in der Bibel vorkommt. Schleiermacher hat auch darauf hingewiesen, dass dieser Begriff ernsthaft untersucht werden sollte. Und das sollte in der Tat geschehen.

Das Konzept eines Gottmenschen gleicht den Vorstellungen heidnischer Völker, in deren Sagen und Mythen von Halbgöttern berichtet wird, die zugleich Gott und Mensch gewesen sind. Die frühen Gnostiker des 1. Jahrhunderts haben in der Tat solch eine mythologische Erlöserfigur als "Gottmenschen" beschrieben.

Paulus mag tatsächlich diese Gnostiker im Sinn gehabt haben, als er 1. Timotheus 2,5 geschrieben hat. Sehr wahrscheinlich hat er Jesus als den einen Mittler dem urgnostischen Glauben an ein pleroma vieler Aeonen (das Jenseits der einflussreichen Mächte) gegenübergestellt, die als Mittler Gott und die Menschen verbinden.

Es ist verwunderlich, dass Christen häufig allein auf der Grundlage eines einzigen Bibelverses, nämlich 1. Timotheus 2,5, Jesus als "Gottmenschen" identifizieren wollen. Dieser Vers weist im Gegenteil jedoch darauf hin, dass Jesus kein Doppelwesen ist. Denn erstens werden GOTT und Jesus Christus hier klar und deutlich voneinander unterschieden; zweitens bestätigt dieser Vers, dass GOTT eine einzige Person ist; drittens spricht er von Jesus Christus nur als "Mensch" und viertens nennt er ihn aus diesen Gründen weder "Gott" noch "Gottmensch".

Man muss also zu dem Schluss kommen, dass es nicht korrekt ist, Jesus allein auf der Grundlage von 1. Timotheus 2,5 als "Gott" oder "Gottmensch" zu bezeichnen. Logischerweise kann Jesus Christus als dritte Partei uns auch nicht mit GOTT versöhnen und gleichzeitig dieser GOTT sein.

Zum Abschluss ein Hinweis auf die Today`s English Version, die die von Paulus beabsichtigte Bedeutung dieses Verses sehr gut so wiedergibt: "Denn es gibt einen GOTT, und es gibt einen, der GOTT und die Menschheit zusammenbringt, das ist der Mensch Jesus Christus."