37. Ist Jesus in Hebräer 1,8 GOTT?

Für traditionsverhaftete Neutestamentler, die glauben, dass Jesus GOTT ist, ist Hebräer 1,8-9 einer der wichtigsten Texte, den sie gern zur Unterstützung anführen. Der Verfasser des Hebräerbriefs hat hier Psalm 45,7-8 zitiert und diese Stelle auf "den Sohn" – Jesus Christus – bezogen. Beide Texte haben grammatische Unsicherheiten, die die Entscheidung schwierig machen, ob der Autor Jesus hier wirklich "GOTT" genannt hat. Um verstehen zu können, wie er dieses Zitat gemeint hat, müssen wir es zuerst etwas näher beleuchten.
Der Psalm 45 ist ein Hochzeitslied und gehört zu der Gruppe der "Liebeslieder"; es ist an "den König" gerichtet (V. 1). Es ist möglich, dass dieses Lied einen idealen König beschreibt, aber es kann auch zu der königlichen Hochzeit eines speziellen Königs, vielleicht Salomo, geschrieben worden sein; beides ist möglich. Der Psalmist schreibt:

"Dein Thron, Gott, ist immer und ewig, ein Zepter der Geradheit ist das Zepter deiner Herrschaft. Gerechtigkeit hast du geliebt und Gottlosigkeit gehasst: darum hat GOTT, dein GOTT, dich gesalbt mit Freudenöl vor deinen Gefährten."

In manchen Bibelübersetzungen haben die Übersetzer die Personalpronomen großgeschrieben, weil sie geglaubt haben, dass sie sich auf Jesus beziehen, und um damit ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen, dass Jesus GOTT ist. Der Verfasser des Hebräerbriefs hat aus der Septuaginta, der griechischsprachigen Übersetzung des Alten Testaments aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., zitiert und nicht aus der hebräischen Bibel. Für Sprachwissenschaftler ist die Übersetzung und Interpretation des ersten Teils des Satzes in Psalm 45,7 einer der schwierigsten Texte des Alten Testaments. In den meisten englischsprachigen Bibeln wird elohim (GOTT) als Vokativ gesehen und mit "Dein Thron, O Gott" übersetzt und der König damit als Gott identifiziert. In anderen Übersetzungen wird elohim aber als Adjektiv, Genitiv, Subjekt oder Prädikat übersetzt und es heißt dann: "Dein göttlicher Thron" oder "Dein Thron ist (von) GOTT"; in ihnen wird der König nicht als Gott bezeichnet.

Ein jüdisches Targum und viele angesehene Rabbis haben den Psalm 45 als messianischen Psalm interpretiert, so wie es der Verfasser des Hebräerbriefes auch getan hat. Er schreibt:

"Von dem Sohn aber: ‚Dein Thron, Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, und das Zepter der Aufrichtigkeit ist Zepter deines Reiches; du hast Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehasst; darum hat dich, GOTT, dein GOTT gesalbt mit Freudenöl vor deinen Gefährten."

Es ist möglich, dass der Psalmist das hebräische Wort elohim (Gott) auf den König bezogen hat, so wie es in anderen Psalmen in Bezug auf andere Herrscher Israels auch gemacht worden ist ("Götter" in Psalm 58,1; 82,6). Aber als Monotheist hat er sehr wahrscheinlich damit sagen wollen, dass der König GOTTES stellvertretender Herrscher ist (vergl. Joh 10,34).
Hinzu kommt, dass der Kontext des Psalms 45 dafür spricht, dass der König / Messias mit den Worten elohim / ho theos in Vers 7a nicht "GOTT" genannt wird. "GOTT" wird in Vers 3 deutlich von dem König / Messias unterschieden ("Darum hat GOTT dich gesegnet"). Auch in Vers 8 ist es so ("Darum hat dich, GOTT, dein GOTT gesalbt"). Dieses wird in beiden Versen weiter verstärkt, in denen GOTT sogar dargestellt wird, wie ER an dem König / Messias handelt.

Würde man den König / Messias in einem derartigen Kontext "GOTT" nennen, würde das zu einer höchst unverständlichen Mehrdeutigkeit führen: GOTT handelt an GOTT!

Don Cupitt erklärt:

"Kein Ausleger würde behaupten, dass die hebräischen Schreiber sich ihren gegenwärtigen oder den zukünftigen vollkommenen König buchstäblich und dem Wesen nach GOTT gleich vorgestellt haben … Die Bedeutung ist eher, dass der König aufgrund göttlichen Rechts regiert und mit der Fülle der Kraft GOTTES ausgestattet ist."

Der unmittelbare Kontext dieser beiden Texte zeigt also, dass ihre Verfasser nicht die Absicht hatten, den, von dem sie geschrieben haben, als den GOTT Israels zu identifizieren. Sie haben GOTT und den König / Messias voneinander unterschieden, wenn sie geschrieben haben: "Darum hat GOTT dich gesegnet" (Psalm 45,3) und "GOTT" und "Seinem Sohn" (Hebr 1,1-2). Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass sie den König / Jesus als "GOTT" angesprochen und dann dem gleich widersprochen haben, wenn sie schreiben: "Darum hat dich, GOTT, dein GOTT gesalbt".

Der weitere Kontext des Hebräerbriefes offenbart, dass sein Autor nicht die Absicht hatte, Jesus "GOTT" zu nennen.

Erstens: Er schreibt in seinem Prolog, dass der Sohn der genaue "Abdruck" (das Bild) des "Wesens" GOTTES ist (Hebr 1,3). Eine Darstellung oder eine Abbildung ist nie das Original.
Zweitens: Da er in seinem Prolog, der als Kurzfassung dient, nicht sagt, dass Jesus GOTT ist, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er es in dem weiteren Text tut.
Drittens: Er setzt alles daran, um zu beweisen, dass der in den Himmel erhobene Jesus höher als alle Engel ist (V. 5-14), auch höher als alle Menschen, einschließlich Mose (Hebr 3,19), höher als alle Priester Israels, einschließlich des hoch geachteten Melchisedeks (Hebr 7,1-16) und dass die Priesterschaft Jesu von größerem Wert ist (Hebr 9,1-28). Das alles so eindringlich zu begründen ist eigentlich überflüssig, wenn der Verfasser des Hebräerbriefes zuvor ausgesagt hat, dass Jesus GOTT ist.

Der Hebräerbrief ist das einzige neutestamentliche Dokument, das speziell an Juden geschrieben worden ist. Juden sind bis zum heutigen Tag strenge Monotheisten und das ist der Verfasser auch gewesen. Wenn er gesagt hätte, dass Jesus GOTT ist, hätte er ganz sicher sein können, dass er mit solch einer provokativen Proklamation in den jüdischen Gemeinden, an die er geschrieben hat, in ein Wespennest gestochen hätte. Für solch eine kühne Behauptung keine Begründungen zu liefern, wäre ein gravierender literarischer Fehler gewesen. Stattdessen hat er bezüglich des Königs / Messias nichts anderes im Sinn gehabt als der Psalmist; für beide ist der König / Messias nicht GOTT gewesen!

Was sagen nun studierte Neutestamentler zu diesem Thema? Die Mehrheit behandelt ho theos in Hebr 1,8 als Vokativ und nennt Jesus daher "GOTT". Aber der Kontext dieses Verses, wie auch der von Psalm 45,7, deutet darauf hin, dass beide Autoren nicht die Absicht hatten, den König / Messias "GOTT" zu nennen.

Vincent Taylor besteht darauf, dass ho theos in Hebr 1,8 als Nominativ behandelt werden muss; trotzdem behauptet er, dass "nichts auf dieser Bibelstelle begründet werden kann, denn der Autor teilt die Abneigung der neutestamentlichen Schreiber, von Christus ausdrücklich als ‚GOTT‘ zu sprechen." Taylor führt an, dass dieser Vers "überhaupt keinen Grund für die Annahme liefert, dass der Verfasser geglaubt und davon gesprochen hat, dass Christus GOTT ist."

William Barclay hat die Debatten der Gelehrten über die Frage, ob die neutestamentlichen Texte Jesus "GOTT" nennen, oft sehr gut zusammengefasst. Er sagt zu Hebr 1,8: "Das ist ein Abschnitt, bei dem niemand zu dogmatisch sein will. In beiden Fällen sind beide Übersetzungsvarianten absolut möglich … Aber ganz gleich, welche Übersetzung wir akzeptieren, wir sehen wieder einmal, dass die Dinge so angreifbar sind, dass es sehr unsicher sein würde, irgendein verbindliches Argument darauf zu begründen."