49 Ist Jesus aus dem Himmel herabgekommen?
Die etablierten Kirchen haben immer schon behauptet, dass Jesus nach Aussage der Bibel als GOTT im Himmel präexistiert hat und auf die Erde herabgekommen ist, um Mensch zu werden; man dieses auch „die Inkarnation“ genannt hat. Im Glaubensbekenntnis von Nicäa heißt es über Jesus: „der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen ist.“ Die Kirchen behaupten auch, dass die Inkarnation ihre Grundlage in der Bibel hat. Allerdings gibt es in den ersten drei Evangelien des Neuen Testaments nichts, was auf so etwas hindeuten könnte. Die Kirchen berufen sich allein auf das Johannesevangelium als den unwiderlegbaren Beweis für die Inkarnation und zitieren besonders gern Joh 1,1 und 14. Tatsächlich finden wir in diesem Evangelium eine Fülle von Texten, die auf den ersten Blick zu verkünden scheinen, dass Jesus präexistiert hat und dass er aus dem Himmel herabgekommen ist, um Mensch zu werden (Joh 1,15 u. 30; 3,13; 6,27-63; 8,58; 17,5 u. 24).
Müssen diese johanneischen Texte aber in einem wörtlichen Sinne ausgelegt werden? Im 3. Jahrhundert hat der Kirchenvater Clemens von Alexandria das Johannesevangelium das „geistliche Evangelium“ genannt und Gelehrte haben seit dieser Zeit diese Bezeichnung zu Recht gutgeheißen. Der Grund liegt darin, dass der johanneische Jesus sehr viele Gleichnisse und Bilder verwendet hat. Mit das bekannteste finden wir in dem Bericht, wo er zu Nikodemus gesagt hat, dass er „von neuem geboren werden muss“ und dieser geglaubt hat, dass Jesus damit eine zweite physische Geburt meint (Joh 3,3). Ziemlich am Ende seines Dienstes hat Jesus seinen Jüngern erklärt: „Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Zeit, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater“ (Joh 16,25; vergl. 10,6). Er hat ihnen seinen Auftrag und seine Mission erklärt, worauf die Jünger ihm geantwortet haben: „Siehe, nun redest du frei heraus und nicht mehr in Bildern“ (Joh 16,29). Mit diesen Worten liefert uns das Johannesevangelium eine Wahrheit, die Gültigkeit hat: Hinter vielen Worten Jesu liegt eine geistliche Bedeutung.
Vierzig Mal heißt es im Johannesevangelium, dass GOTT Jesus oder Worte in diesem geistlichen Sinne „gesandt“ hat. Diese Sprache weist nicht auf ein wortwörtliches „vom Himmel herab gesandt sein“ hin; sie nimmt lediglich die prophetische Tradition auf, dass GOTT jemanden gesandt hat, der einen Auftrag erfüllen sollte. So hat ER zum Beispiel auch Johannes dem Täufer gesandt (Joh 1,6).
In den meisten Abschnitten des Johannesevangeliums, die angeblich die Präexistenz beweisen sollen, wird Jesus als „herabgekommen“ oder „vom Himmel“ oder „von oben“ beschrieben. Traditionalisten (das sind Christen, die glauben, dass Jesus GOTT ist) interpretieren diese Texte in einem wortwörtlichen Sinne. Allerdings sollte die geistliche Natur dieses Evangeliums ein Anlass sein, sich tiefer mit diesen Texten zu befassen. So hat zum Beispiel Nikodemus nicht die Präexistenz gemeint, als er zu Jesus gesagt hat: „Du bist von GOTT gekommen“ (Joh 3,2). Zweimal wird uns in diesem Evangelium berichtet, dass Johannes der Täufer gesagt hat: „Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich“ (Joh 1,15 u. 30). Aus dieser Aussage hat man geschlossen, dass Jesus präexistiert hat, weil er mindestens sechs Monate nach Johannes geboren worden ist (Luk 1,26 u. 30). In einigen Bibelübersetzungen ist der letzte Teil dieses Verses aber mit folgenden Worten wiedergegeben worden: „weil er vor mir war“ (Einh.Ü) oder „er war Erster über mir“ (Menge alternativ), die auf eine Rangstellung hindeuten. Genau das hat Johannes gemeint, als er zweimal mit Bezug auf Jesus gesagt hat: „Der von oben kommt/der aus dem Himmel kommt, ist über allen“ (Joh 3,31).
Jesus hat laut Johannes auch verkündet: „Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen, außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, des Menschen Sohn“ (Joh 3,13). Die meisten Theologen drehen recht willkürlich diese Reihenfolge des Hinaufsteigens und Herabkommens einfach um, sodass der angeblich präexistierende Jesus bei seiner Inkarnation aus dem Himmel herabgekommen und nach seiner Auferstehung wieder hinaufgestiegen ist. Aber der Kontext verlangt genau die andere Reihenfolge. Jesus hat Nikodemus gesagt, dass er in einer geistlichen neuen Geburt „von oben“ geboren werden muss (Joh 3,3-5).
Außerdem weist in Daniel 7,13-14 das Bild des Sohns des Menschen prophetisch darauf hin, wie diese Person (Jesus) zu dem himmlischen Thron GOTTES hinaufsteigt, um ein Königreich zu empfangen, das aus Menschen besteht und mit dem er dann vermutlich wieder auf die Erde herabkommen wird (Luk 19,11-12); - auch hier finden wir wieder diese Hinaufsteigen-/Herabkommen- Reihenfolge.
Viele Christen glauben, dass der wichtigste Beweis im Johannesevangelium für die Präexistenz Jesu und sein Herabkommen vom Himmel seine sehr umfangreiche Rede über das Brot des Lebens ist, die sehr von der Herabkommen-Sprache geprägt ist (Joh 6,25-65). Diese plastische Darstellung ist voller Bilder und Gleichnisse. Jesus beschreibt sich selbst als „das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,41 u.51). Trotz der Tatsache, dass er offensichtlich nicht gemeint hat, dass er im wörtlichen Sinne Brot ist, haben fast alle Leser dieses Evangeliums geglaubt, dass er dieses wörtlich gemeint hat und haben daraus seine Präexistenz als Person und die Inkarnation gefolgert.
Jesus hat in dieser Rede aber auch gesagt, dass die Menschen sein Fleisch essen und sein Blut trinken sollen und dass sie, wenn sie dieses tun, nicht mehr hungern und dürsten werden, sondern das ewige Leben haben (Joh 6,50-58). Viele der Zuhörer Jesu haben über diese schwierigen Worte gemurrt (V. 41,60-61) und viele seiner Jünger sind ihm wegen dieser Worte nicht mehr länger gefolgt (V. 66). Und das trotz der Tatsache, dass Jesus ihnen gerade erklärt hatte, dass er in Bildern zu ihnen gesprochen hat: „Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“ (V. 63). Wenn Brot, Fleisch, Blut, Hunger und Durst grundsätzlich geistliche Bilder und nicht im wörtlichen Sinne zu verstehende Bilder gewesen sind, was gibt uns dann das Recht zu glauben, dass die einzige andere Vorstellung in diesem Bericht – dass Jesus vom Himmel herabkommen ist - völlig anders zu verstehen ist?
Eine Zeit später hat Jesus zu seinen ungläubigen jüdischen Gesprächspartnern gesagt: „Ihr seid von unten her, ich bin von oben her. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt“ (Joh 8,23). Er hat ganz sicher nicht gemeint, dass er im wortwörtlichen Sinne präexistiert hat und vom Himmel herabgekommen ist. Wenn es so gewesen wäre, hätte er, um konsequent zu bleiben, auch glauben müssen, dass seine Gegner im wortwörtlichen Sinne von unten gekommen sind. Jesus weist somit in all diesen johanneischen Passagen nicht auf einen buchstäblichen Ursprung, sondern auf eine geistlich zu verstehende Wirklichkeit hin und die besagt, dass er mit GOTT und dem Himmel verbunden ist, während sie mit dem Teufel und der Hölle in Verbindung stehen (Joh 8,44).
In seinem hohepriesterlichen Gebet, das er vor seiner Verhaftung und Gefangennahme zu seinem GOTT und Vater gesprochen hat, hat er gesagt: „Und nun verherrliche DU mich, Vater, bei Dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei Dir hatte, ehe die Welt war ... meine Herrlichkeit, die DU mir gegeben hast; denn DU hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt!“ (Joh 17,5 u. 24). Diese Worte scheinen zunächst darauf hinzudeuten, dass Jesus vor der Schöpfung im Himmel präexistiert haben muss, wenn er offensichtlich eine Herrlichkeit besessen hat, die er mit GOTT teilte. Jesus kann sich aber auch auf die Schechina-Herrlichkeit bezogen haben, die die Israeliten begleitet hat und er kann gemeint haben, dass GOTT in Seinen Gedanken bereits vor der Schöpfung Seinen ausersehenen Sohn geliebt hat (siehe Eph 1,4; 1.Petr 1,20) und für den ER auch die Schechina-Herrlichkeit ausersehen hat.
In der Tat lehrt das Judentum, dass die Schechina-Herrlichkeit für den Messias vorherbestimmt war. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die ganze Sprache in diesem „geistlichen“ Evangelium von Johannes über die Präexistenz Jesu und über sein Herabkommen vom Himmel in einem metamorphischen Sinne gedacht gewesen ist.